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ATOM/411: Fukushima Daiichi - Fabrikarbeit geht innerhalb der Evakuierungszone weiter (SB)


Profit über alles


Am Beispiel der Nuklearkatastrophe von Fukushima wird deutlich, daß die Vergesellschaftung des Menschen den eigentlichen Zweck erfüllt, Verfügungsgewalt über ihn zu erlangen und sie auszubauen. So ging es der japanischen Regierung nach dem Erdbeben und Tsunami vom 11. März 2011 erklärtermaßen primär darum, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und keine Panik zu verbreiten. Unausgesprochen räumt die Regierung damit ein, daß sie das Risiko einging, daß Menschen gesundheitliche Schäden erleiden oder sogar aufgrund einer Verstrahlung verenden. Offenbar zählt der einzelne nichts und die Gesellschaft alles.

Auf dieses zwischen Regierung und den Bürgerinnen und Bürgern vorherrschende Gewaltverhältnis wird man im Zusammenhang mit der Nuklearkatastrophe von Japan in zahlreichen Beispielen gestoßen, sei es, daß die Regierung keine ausreichenden Gesundheitsdaten zur Strahlenbelastung herausgibt und die Menschen im Ungewissen über die akuten Gefahren läßt, sei es, daß Tepco, die Betreibergesellschaft des havarierten Akw Fukushima Daiichi, mit hohen Summen an öffentlichen Geldern gestützt wird, während zugleich Sozialprogramme gestrichen werden, oder sei es, daß die Industriearbeit sogar noch innerhalb der Evakuierungszone, die zudem mit 20 Kilometern viel zu klein ausgelegt ist, weitergeführt wird.

Diese Zone wird zwar als No-go-area bezeichnet, aber es gibt eben Ausnahmen. Beispielsweise darf in dem Unternehmen Kikuchi Seisakusho, in dem aus Magnesium, Kunststoff und Stanzblechen Teile für Mobiltelefone, Fahrzeuge und medizinische Geräte hergestellt werden, weitergearbeitet werden, obwohl es in Itate-mura und damit innerhalb der Evakuierungszone angesiedelt ist. Das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie hatte Kikuchi und acht weiteren Unternehmen, die "Innenarbeiten" verrichten, gestattet, die Arbeit in der No-go-area fortzusetzen [1].

Da das Fabrikgebäude durch das Erdbeben kaum beschädigt worden war, wurde darin bereits kurze Zeit nach dem katastrophalen Ereignis in nicht mal 20 Kilometern Entfernung, ungeachtet der eklatanten Strahlengefahr für die Beschäftigten, die Produktion wieder aufgenommen. Das war, noch bevor die Regierung eine Evakuierungszone ausgerufen hat.

Nun wird also weitergearbeitet in Kikuchi. Dort hat man einige kleinere Maßnahmen gegen die radioaktive Strahlung getroffen. So wurde am Fabrikeingang eine Dusche aufgebaut (aber was ist mit dem kontaminierten Wasser?); die Beschäftigten müssen Mundschutz und Innenschuhe tragen und sich die Hände waschen; Strahlenexperten halten Seminare für das Personal ab. Damit die potentiell verstrahlten Personen aus der Region nicht ihr Arbeitsumfeld kontaminieren und dadurch den Produktionsprozeß gefährden, wurden 240 von ihnen über einen längeren Zeitraum dahingehend beobachtet, ob die akkumulierte Strahlung den zulässigen Grenzwert überschreitet. Das war angeblich bei keinem der Fall, alle blieben im "akzeptablen" Bereich (was immer "akzeptabel" bedeuten mag ...).

Zudem hat das Unternehmen Dosimeter an die Beschäftigten verteilt, so daß sie ihre Verstrahlung selbst kontrollieren können. Bei wem die Grenzwerte der radioaktiven Belastung überschritten werden, wird möglicherweise seinen Job verlieren. Da sich die Menschen in einer extrem zugespitzten ökonomischen Zwangslage befinden, werden sie Wege finden, daß bei ihnen - zumindest offiziell - niemals eine höhere Strahlung nachgewiesen wird, als sie erhalten dürfen.

Um im Falle eines weiteren Erdbebens und einer davon ausgehenden Strahlungszunahme die Produktion nicht vollständig aufgeben zu müssen, hat das Unternehmen einen Teil der Fertigung mitsamt 40 Beschäftigten weit entfernt nach Nihonmatsu City ausgelagert. Offenbar ist man in der Führungsebene von Kikuchi recht geschäftstüchtig. Davon zeugt auch, daß das Unternehmen am 28. Oktober, also inmitten der Krise, erstmals Aktien emittiert hat. Ein unternehmerischer Erfolg auf der Basis eines Personals, das so sehr mit seiner Firma verbunden zu sein scheint, daß es erhebliche gesundheitliche Risiken einzugehen bereit ist und unter extremen Bedingungen weiterarbeitet. Vielleicht wäre es anders, wenn der Mensch radioaktive Strahlung sehen, riechen, hören, schmecken oder spüren könnte, bevor sie körperliche Schäden anrichtet.

Die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit eines partiellen Strahlenschutzes, wie er in der Fabrik vorgenommen wird, in einer rundum verstrahlten Umgebung ist entschieden zu bestreiten. Auch bestehen Zweifel daran, daß die Produkte, die innerhalb der Evakuierungszone angefertigt werden, ausreichend auf eine mögliche Strahlenbelastung hin geprüft werden, bevor sie in den Handel gelangen.

Solche Zweifel werden laufend durch Meldungen über Hot Spots oder den laxen Umgang der Behörden mit der Strahlenbelastung genährt. Beispielsweise haben Mitglieder der Kommunistischen Partei Japans (KPJ) Anfang des Monats an vier Stellen Strahlenmessungen vorgenommen und im Mizumoto-Park der Hauptstadt Tokio erhöhte Werte an radioaktivem Cäsium registriert. Pro Kilogramm Erdreich wurden zwischen 7.770 und 23.300 Becquerel nachgewiesen. Laub war mit1.180 bis 8.290 Becquerel Cäsium belastet. Eine Aufforderung der KPJ an die Behörden, sie sollten eigene Messungen im Mizumoto-Park vornehmen, wurde mit der Begründung abschlägig beschieden, daß man bereits im November 2011 in der Luft einen Meter über dem Boden Strahlenmessungen durchgeführt und nur Werte unterhalb von einem Mikrosievert pro Stunde - dem vom Forschungsministerium festgelegten Grenzwert - festgestellt habe [2].

Nach dieser Aussage dürften die Bewohners Tokios konsequenterweise den Park nur besuchen, wenn es ihnen gelingt, einen Meter über dem Boden zu schweben. Da diese Fertigkeit nicht zum typischen Bewegungsrepertoir der Menschen gehört, müßten sie den Park meiden, denn ihre Schuhe kommen nun mal in Kontakt mit Laub und Erdreich.

Unterdessen teilt der Kraftwerksbetreiber Tepco mit, er wolle den verstrahlten Meeresboden vor der Atomanlage Fukushima Daiichi mit einer 60 Zentimeter dicken und 73.000 Quadratmeter großen Betonschicht zudecken. Zum Ausmaß der Verstrahlung wurden keine genauen Angaben gemacht. Es wurde nur berichtet, daß die Konzentration radioaktiver Substanzen im Ozeanboden "relativ hoch" sei. [3] Eine so dicke, kostspielige Betonschicht würde jedoch niemand freiwillig anlegen, wenn er damit nichts verbergen wollte.

Vielleicht sollte man auch die Buch von Tokio komplett zubetonieren. Dort hat sich Cäsium angesammelt. Entdeckt hatte es der Umweltwissenschaftler Prof. Hideo Yamazaki von der Kinki-Universität in der Präfektur Osaka. Ende August nahm er Proben aus dem Schlamm im Mündungsgebiet des Arakawa-Flusses und war auf Cäsiumwerte von mehreren hundert Becquerel pro Kilogramm gestoßen [4].

In Japan befinden sich zur Zeit nur noch zwei Atomkraftwerke von ursprünglich 54 am Netz [5]. Im April könnte die Situation eintreten, daß gar kein Akw mehr elektrischen Strom liefert. Was aber nicht bedeutet, daß dies langfristig so bleiben wird. Die Betreiber drängen darauf, nachdem die Anlagen einen "Streßtest" erfolgreich absolviert haben, ihre Meiler wieder hochfahren zu dürfen. Ein kompletter Atomausstieg in Japan liegt in weiter Ferne, so es jemals dazu kommen sollte.

Der Widerstand in der Bevölkerung gegen die Atomenergie wächst, aber erstens wird dies von den Medien nach Möglichkeit unterdrückt und zweitens bemüht sich die Regierung sehr darum, ein Leben inmitten der Verstrahlung als normal und relativ ungefährlich darzustellen. Wenn in einigen Jahren oder Jahrzehnten die Gesundheitsstatistiken einen Anstieg von Schilddrüsenkrebs und anderen typischen Strahlenkrankheiten zeigen, wurden vollendete Tatsachen geschaffen, die nicht mehr zu beheben sind. Vielleicht müssen bis dahin noch einige Köpfe der Verantwortlichen rollen, aber wie das so ist mit der Hydra, es wachsen immer neue Köpfe nach. Profitstreben hatte maßgeblichen Anteil an der Nuklearkatastrophe, Profitstreben bestimmt auch weiterhin die vorherrschende Ordnung. Die Gesellschaft wird immer ein Oben und Unten hervorbringen, solange nicht ihre Voraussetzung, die Verwertung menschlicher Produktivkraft zum Nutzen fremder Interessen, in Angriff genommen wird.



Fußnoten:

[1] "Fukushima Company Emerges from Disaster Stronger than Ever", RisingSun.jp, 29. November 2011
http://www.risingsun.jp/tohoku/fukushima-k

[2] "High Levels of Radiation Detected at Tokyo Park", Jiji Press, 21. Februar 2012
en.jiji.com/jc/eng?g=eco&k=2012022101169

[3] "Meeresboden vor Fukushima wird zubetoniert", Schweizer Fernsehen, 22. Februar 2012
http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2012/02/22/International/Meeresboden-vor-Fukushima-wird-zubetoniert

[4] "Cesium in Tokyo Bay focus of new study", Asahi Shimbun, 21. Februar 2012
http://ajw.asahi.com/article/0311disaster/fukushima/AJ201202210005

[5] "Struggling utilities now down to 2 reactors online", Asahi Shimbun, 21. Februar 2012
http://ajw.asahi.com/article/0311disaster/fukushima/AJ201202210033

22. Februar 2012