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ATOM/449: Strahlen - ein alter Verdacht ... (SB)




Doppelspurige Autoschlange in die eine Fahrrichtung, nur eine Handvoll Autos in Richtung einer hügeligen Region, über die eine riesige, finstere Rauchwolke aufsteigt - Foto: Cyclonebiskit, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en]

9. November 2018, Kalifornien: Menschen fliehen auf der Pazifischen Küstenautobahn vor dem auf Malibu zurasenden Feuer.
Foto: Cyclonebiskit, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en]

Die verheerenden Waldbrände, die zur Zeit in Kalifornien toben und mehrere Dutzend Todesopfer gefordert haben, sind auch über einen Nuklearkomplex samt Raketentestgelände des US-Militärs hinweggezogen, der schon vor Jahren vollständig dekontaminiert werden sollte. Das wurde jedoch versäumt. Nun befürchten Anwohner und die Organisation "Ärzte für soziale Verantwortung - Los Angeles", daß durch die Brände radioaktive Partikel sowie hochgiftige chemische Substanzen freigesetzt wurden. Die Behörden behaupten, das sei wohl nicht der Fall, haben aber überhaupt keine Messungen durchgeführt.

Die Geschichte jenes Santa Susana Field Laboratory (SSFL), in dem 1957 der erste Kernreaktor der USA Energie für das öffentliche Stromnetz generierte, ist eine der fortgesetzten Täuschung der Öffentlichkeit. Das fing schon 1959 mit der 30prozentigen Kernschmelze eines Schnellen Brüters an, die zwei Jahrzehnte lang geheimgehalten wurde, obgleich es dabei zur Freisetzung von Radioaktivität gekommen war. Auch bei späteren Störfällen in einem der zehn experimentellen Kernreaktoren auf dem Gelände sind radioaktive Partikel in die Umwelt gelangt. In welchem Ausmaß, ist Gegenstand kontroverser Einschätzungen. Offiziell bestand niemals eine nennenswerte Gefahr für die Öffentlichkeit, laut Dr. Arjun Makhijani vom Institute for Energy and Environmental Research dagegen wurde die bis zu 260fache Menge an radioaktivem Jod-131 freigesetzt, wie laut den offiziellen Angaben bei der Three-Mile-Island-Katastrophe im Jahr 1979 in die Umwelt entfleucht ist [1].

Was auch immer an radioaktiven Partikeln durch den Brand, der am 8. November 2018 über das Testgelände im Woolsey-Bezirk hinweggezogen ist, in Umlauf gebracht wurde, die Anwohner haben keinen Anlaß zu glauben, daß sie diesmal von den Behörden nicht hinters Licht geführt werden, nachdem sie jahrzehntelang Opfer fremdnütziger Interessen geworden sind. Die Krebs- und Leukämierate in der Umgebung des SSFL ist deutlich höher als im Durchschnitt Kaliforniens. Doch wer wollte den exakten Nachweis führen, daß radioaktive Emissionen oder auch Freisetzungen von extremen Umweltgiften aus den mehr als 20.000 dort durchgeführten Raketentests zu einer konkreten Krebserkrankung geführt haben?

Die kalifornische Behörde, die für die Kontrolle toxischer Substanzen zuständig ist, das Department of Toxic Substances Control (DTSC), hat am Tag nach dem Feuer unter Berufung auf bloße Einschätzungen allgemeiner Art behauptet, daß sie "glaubt", daß keine giftigen Substanzen freigesetzt wurden, die über das hinausgehen, was von jedem Waldbrand zu erwarten sei. Aber zu dem Zeitpunkt hatte noch niemand Messungen durchgeführt, und die Luftmeßstationen um die Anlage herum waren wegen des Feuers noch gar nicht zugänglich [2].

Man hat also in weitgehender Unkenntnis der konkreten Lage Entwarnung gegeben. Das ist kein sonderlich vertrauenerweckendes Vorgehen. Und so kommt Melissa Bumstead aus West Hills zu dem Schluß: "Wir können nichts von dem trauen, was DTSC sagt." [3]

Bumstead, die eine junge Tochter hat, die an Leukämie erkrankt ist, hat 50 Fälle seltener Kinderkrebserkrankungen innerhalb eines Radius von rund 35 Kilometern um das Testgelände zusammengetragen, eine Bürgerinitiative "Parents vs. SSFL" (Eltern gegen SSFL) ins Leben gerufen und bei Change.org eine Petition veröffentlicht, in der die Menschen per Mausclick die Forderung nach einer vollständigen Dekontaminierung des Gebiets unterstützen können. Die Organisation Physicians for Social Responsibility-Los Angeles schreibt nun:

"Kernreaktorunfälle, darunter eine weithin bekannte partielle Kernschmelze, Zehntausende von Raketentriebwerkstests und unsaubere Umweltpraktiken haben dazu geführt, daß SSFL mit radioaktiven und chemischen Verunreinigungen weithin belastet ist. Von der Regierung finanzierte Studien deuten darauf hin, daß die Krebserkrankungen für die Bevölkerung in der Nachbarschaft des Standorts zunehmen und daß die Kontamination außerhalb des Standorts über die besorgniserregenden EPA-Werte hinausgeht."

Bereits im Jahr 2010 hatten sich die Behörden verpflichtet, den Luft- und Raumfahrtkonzern Boeing, dem der größte Teil des Gebiets gehört, zu bewegen, das Gebiet gemäß den üblichen Standards zu reinigen. Bis heute hat Boeing damit noch nicht einmal begonnen, und die Behörden erwägen inzwischen offenbar, die Kontaminationen des Geländes dauerhaft zu belassen und dieses als Erholungsgebiet für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dr. Robert Dodge, Präsident der Physicians for Social Responsibility - Los Angeles, hält den Umgang der Behörden mit potentiellen Risiken für fahrlässig:

"Wir wissen, welche Stoffe sich auf dem Gelände befinden und wie schädlich sie sind. Wir sprechen von unglaublich gefährlichen Radionukliden und giftigen Chemikalien wie Trichlorethylene, Perchlorate, Dioxine und Schwermetalle. Diese toxischen Stoffe befinden sich im Boden und in der Vegetation des SSFL, und wenn sie verbrennen und über Rauch und Asche in die Luft gelangen, besteht die reale Möglichkeit einer erhöhten Belastung für die Anwohner."

Was der Bevölkerung rund um das Testgelände angetan wird, indem man ihre Sorgen von vornherein als unbegründet darstellt, paßt haargenau in das Muster, das in vielen Ländern zu beobachten ist: Politik, Nuklearwirtschaft und Teile der Wissenschaft ziehen am gleichen Strang. Seien es die sowjetischen Behörden, die 1986 die Tschernobyl-Explosion verschwiegen, sei es Japans Regierung, die seit 2011 die Fukushima-Katastrophe herunterspielt, oder seien es in Deutschland Bund und Länder, die den Verdacht nie ausräumen konnten, daß ein Leukämiecluster in der Elbmarsch in den 1980er und 90er Jahren von einem nahegelegenen Kernreaktor ausgelöst wurde: Im Verhalten der "Offiziellen" gegenüber den um ihre Gesundheit und die ihrer Angehörigen besorgten Menschen zeigt sich eine tiefe Feindseligkeit.

Würde ein Mensch einen anderen direkt vergiften, so daß dieser an Krebs erkrankt, würde er für diese Tat bestraft. Die Apologeten der Atomenergie jedoch, die an ihren Schreibtischen in den Behörden, der Wirtschaft und der Wissenschaft sitzen, sind ebenfalls für die Vergiftung von Menschen verantwortlich, verstecken sich jedoch hinter der statistischen Verschleierung. Nur weil man nicht genau sagen kann, wen sie auf dem Gewissen haben, kommen sie strafrechtlich davon. Aber daß sie Menschen auf dem Gewissen haben, geht allein schon aus der Festlegung von Grenzwerten für eine radioaktive Belastung hervor. "Grenzwert" bedeutet nicht, daß jemand, der zeit seines Lebens niemals eine höhere radioaktive Belastung als den zulässigen Grenzwert erfährt, nicht aufgrund von Radioaktivität erkrankt. Sondern mit Grenzwert ist die Anzahl an Menschen gemeint, die der Staat bereit ist, für als übergeordnet angesehene Interessen zu opfern.

Wenn also, wie in diesem Fall, die Behörden den Eindruck vermitteln, für die Bevölkerung bestehe aufgrund des Feuers auf dem mit radioaktiven und chemischen Substanzen kontaminierten Gelände des SSFL keine erhöhte Gefahr, dann schließt diese Bewertung unausgesprochen den gesellschaftlich akzeptierten Kollateralschaden ein. Dem Risiko einer Verstrahlung und damit des Raubs der Lebensqualität und wahrscheinlich auch des Lebens kann nur durch eine Nullösung begegnet werden: Abschaffung sämtlicher Kernkraftwerke und Kernwaffen sowie unverzügliche und vollständige Dekontamination des unsäglichen nuklearen Erbes.


Luftaufnahme aus dem Jahr 2005 - Foto: U.S. Department of Energy

Das Santa Susana Field Laboratory (SSFL) in den Simi Hills.
Foto: U.S. Department of Energy


Fußnoten:


[1] https://www.etec.energy.gov/Library/Main/Doc._No._50_Hirsch_Senate_Statement_9-18-2008.pdf

[2] https://www.dtsc.ca.gov/upload/Community-Update-on-Woolsey-Fire-and-SSFL.pdf

[3] https://www.psr-la.org/woolsey-fire-burns-nuclear-meltdown-site-that-state-toxics-agency-failed-to-clean-up/


12. November 2018


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