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KLIMA/296: "Krass" - Nordpol viel schneller eisfrei als vermutet (SB)


Unvermindert starke Eisschmelze in der Arktis

Wissenschaftler sprechen von "erschreckender" und "krasser" Entwicklung


Die Ergebnisse der Klimasimulationen, die im Laufe dieses Jahres von weltweit führenden Wissenschaftlern im Auftrag der Vereinten Nationen veröffentlicht wurden, sind offenbar bereits hoffnungslos veraltet.

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der Vereinten Nationen hatte in drei aufeinanderfolgenden Berichten prognostiziert, daß der Meeresspiegel bis Ende dieses Jahrhunderts um bis zu 79 Zentimeter weltweit steigen und der Eispanzer von Grönland in vielleicht einigen tausend Jahren abschmelzen werde. Beide Zahlen dürften untertrieben sein. Klima und Meeresströmungen der polaren Breiten verändern sich wesentlich rascher als vorhergesagt.

Die an der Erforschung der Arktis beteiligten Wissenschaftler geben laufend dramatischere Meldungen über die dortige Entwicklung der Eis- und Schneemassen sowie des Dauerfrostbodens ab. Der aktuellste Alarmruf stammte vor wenigen Tagen von dänischen Forschern. Gegenüber der Zeitung "Jyllands-Posten" sagte der Meteorologe Leif Toudal Pedersen von der Technischen Universität Kopenhagen (DTU), daß jüngste Satellitenfotos einen "extremen Tiefstwert" für die Ausdehnung der Eisfläche rund um den Nordpol zeigten. Die Fläche sei inzwischen auf unter drei Millionen Quadratkilometer geschrumpft. Der Meteorologe Eigil Kaas ergänzte, daß die Meßergebnisse "erschreckend" seien und weiter: "Was wir da erleben, ist krass. Die schlimmsten Prognosen werden bestätigt."

Zwar trägt das Abschmelzen der Eismasse am Nordpol nicht unmittelbar zum Anstieg des Meeresspiegels bei, da das Eis dort auf dem Wasser schwimmt, aber selbstverständlich hat ein eisfreier Nordpol Auswirkungen auf das gesamte Weltklima. An der Erwärmung nehmen auch Grönland und andere arktische Landmassen teil, und deren Eisschmelze wird zum Meeresspiegel beitragen. Wenn das IPCC einen Anstieg um bis zu 79 Zentimeter bis zum Jahr 2100 voraussagt, sich aber mittlerweile die Grundlage dieser Prognose als unzulänglich erwiesen hat, so muß daraus abgeleitet werden, daß der weltweite Meeresspiegel bis 2100 noch höher steigen wird oder aber, in abgewandelter Lesart, daß der Zeitpunkt, an dem die 79 Zentimeter erreicht werden, zu einem deutlich früheren Zeitpunkt eintritt.

Mitte der neunziger Jahre besaß das Eis des Nordpolarmeeres im Sommer eine Ausdehnung von 6,5 Millionen Quadratkilometern. Im Juli 2006 berechneten Wissenschaftler eine Fläche von rund fünf Millionen Quadratkilometern. Vor rund einem Monat hatten Wissenschaftler des Zentrums für Marine- und Atmosphärische Wissenschaften (ZMAW) der Universität Hamburg prognostiziert, daß die Eisfläche in diesem Jahr auf 3,5 Millionen Quadratkilometer schrumpfen werde. Heute, nur wenige Wochen darauf, steht fest, daß das Eis nicht einmal mehr drei Millionen Quadratkilometer einnimmt.

Die Klimaprognosen der Wissenschaftler werden aufgrund der Messungen ständig "nachgebessert", das heißt, der rasanten Entwicklung angepaßt. Hatte es vor wenigen Jahren noch geheißen, daß die Arktis ab dem Zeitraum von 2070 bis 2100 während der Sommermonate eisfrei sein könne, so wurde der Wert Anfang dieses Jahres bereits auf das Jahr 2040 reduziert. Die dänischen Forscher hingegen glauben, daß dies in 15 bis 20 Jahren, also um 2025 so weit sein könne.

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der das Eis schmilzt und die Prognosen korrigiert werden, stellt sich die Frage, mit welchen Vorhersagen im Laufe der nächsten Jahre zu rechnen ist. Zeichnete man zum Verlauf der Vorhersagen eine Kurve, so müßte man bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre einen eisfreien Nordpol zur Sommerzeit prognostizieren.

Pedersen glaubt, daß die starke Eisschmelze in der Arktis nicht nur auf den Klimawandel zurückgeht, sondern daß gewaltige Eisströme aus Sibirien an die grönländische Ostküste geflossen und dabei aufgeschmolzen sind. US-Wissenschaftler des National Snow and Ice Data Center (NSICDC) in Boulder, Colorado, hingegen bieten eine andere Erklärung an. Vor wenigen Wochen schrieben sie, daß während der Monate Juni und Juli 2007 ein ungewöhnlich klarer Himmel über der Arktis geherrscht habe, was die Sonneneinstrahlung, die in diesen Monaten ihren höchsten Stand über der Arktis einnehme, begünstigte. Außerdem hätten kräftige Winde wärmere Luftmassen in die polaren Breiten verfrachtet. Dadurch sei der bisherige Rekord an Eisverlust, der am 21. September 2005 gemessen wurde, unterboten worden. Das arktische Eis nehme jetzt eine Fläche von nur 5,23 Millionen Quadratkilometern ein, schrieben sie und schlossen ihre Vermutung an, daß die Arktis um das Jahr 2030 herum eisfrei sein könne. Vier Wochen später hat sich ihre Prognose als zu optimistisch erwiesen.

4. September 2007