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KLIMA/586: Prof. Schellnhuber - Noch in diesem Jahrhundert wird sich das Schicksal der menschlichen Hochzivilisation entscheiden (SB)


Neuberechnung - Eis der Antarktis schmilzt schneller als angenommen

Wenige Jahre alte Worst-case-Szenarien der Klimaforschung längst überholt


Die Berechnungen des Weltklimarats gelten zwar in der Wissenschaft als wesentliche Grundlage für Prognosen wie, daß die globale Erwärmung vermehrte Schmelzvorgänge von Schnee und Eis auslöst und dadurch der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts weltweit schlimmstenfalls um einen Meter steigen könnte. Aber zugleich ist bekannt, daß für diese Berechnungen wesentliche Schmelzeinträge aus den polaren Zonen noch nicht berücksichtigt wurden. Nach der Veröffentlichung des letzten Reports des Weltklimarats (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change) vor rund zwei Jahren wurde eine Reihe von Studien veröffentlicht, in denen die Schmelzvorgänge vor allem Grönlands und der Antarktis genauer unter die Lupe genommen wurden. Dabei zeichnet sich ein deutlicher Trend ab: Was im IPCC-Report 2014 noch als Worst-case-Szenario beschrieben wurde, wird von den jüngeren Berechnungen weit übertroffen und wäre eher als eine Art Mittelwert anzusehen.

Allein die Antarktis könnte bis Ende des Jahrhunderts um über einen Meter zum globalen Meeresspiegelanstieg beitragen, berichten die Forscher Robert DeConto von der University of Massachusetts in Amherst und David Pollard von der Pennsylvania State University in der jüngsten Ausgabe des Journals "Nature". Das Meer könnte doppelt so schnell steigen wie im letzten Weltklimabericht angenommen. Bis zum Jahr 2500 rechnen die Forscher sogar mit einem weltweit dreizehn Meter höheren Meeresspiegel als heute, sollten die Treibhausgasemissionen nicht gesenkt werden. [1]

Das Bild, das die beiden Forscher hier entwerfen, deckt sich mit dem, was der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Prof. Hans Joachim Schellnhuber, vor kurzem auf der Leipziger Buchmesse gegenüber dem Schattenblick sagte. Noch in diesem Jahrhundert werde sich das Schicksal der menschlichen Hochzivilisation entscheiden; die Transformation der Gesellschaft müsse jetzt beginnen. Die fossilen Brennstoffe seien ein großes Geschenk für die Menschheit gewesen, aber jetzt habe sich dieses in einen Fluch gewandelt. [2]

Selbst wenn die Menschheit schlagartig die Verbrennung fossiler Treibstoffe einstellen würde, heißt es in der "Nature"-Studie, würde der Meeresspiegel nicht sofort wieder sinken, denn die Weltmeere speicherten die Wärme über mehrere Jahrtausende. Einen ähnlich gelagerten Effekt schilderte Schellnhuber hinsichtlich der für ihn inakzeptablen Idee des Geoengineerings: Die Ozeanversauerung, die ein Nebenprodukt der Erderwärmung ist, könnte möglicherweise über Jahrtausende nicht umgekehrt werden, selbst wenn der Atmosphäre Kohlenstoff entzogen würde.

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, lautet ein bekannter Spruch, dessen Urheberschaft wahlweise dem Autor Mark Twain, dem Kabarettisten Karl Valentin, dem Physiker Niels Bohr oder einem dänischen Politiker zugewiesen wird. Prognosen geben die Klimaforscher strenggenommen gar nicht ab, sondern sie erstellen Projektionen. Das heißt, sie berechnen auf bestimmten Grundannahmen eine mögliche Entwicklung. Solche Klimasimulationsmodelle vermochten bisher nicht zu beschreiben, was Geologen anhand ihrer eigenen Untersuchungsmethoden für das Zeitalter des Pliozäns herausgefunden haben: Vor rund drei Millionen Jahren lag der Meeresspiegel um bis zu 20 Meter höher als heute, aber die globale Durchschnittstemperatur war gegenüber heute nur leicht erhöht. Wie kann das sein, wenn doch alle Welt sagt, daß Erderwärmung und Meeresspiegelanstieg Hand in Hand gehen?

Die Computersimulation von DeConto und Pollard vermag diesen Anstieg abzubilden, was die Vermutung nahelegt, daß auch ihre Projektionen zum zukünftigen Meeresspiegelanstieg belastbar sind. Die Forscher haben zwei vernachlässigte Mechanismen berücksichtigt: Erstens den Einfluß von warmen Luftmassen und Regen auf die Gletscherzungen, die schneller abschmelzen, als bislang vermutet. Die Forscher gehen davon aus, daß dieser Effekt noch denjenigen des wärmer werdenden Meerwassers übertreffen könnte, durch das die Gletscher von unterwärts ausgedünnt werden; spätestens aber zu dem Zeitpunkt, an dem die Gletscherzungen so weit abgeschmolzen sind, daß sie überhaupt nicht mehr mit dem Meer in Berührung kommen, werden die atmosphärischen Bedingungen ausschlaggebend für die Eisentwicklung sein.

Ein weiterer, bislang wenig berücksichtigter Einfluß betrifft die geomorphologischen Bedingungen. In vielen Küstengebieten der Antarktis fällt der Untergrund landeinwärts ab, die Gletscher fließen sozusagen über die Kante ins Meer. Wenn sich das Eis tendenziell über diese Kante ins Landesinnere, wo der Eispanzer immer höher wird, zurückzieht, wird dadurch die Gletscherzunge bzw. die Gletscherfront dicker und könnte den Berechnungen nach eine Höhe von 90 Metern erreichen. Durch die enorme Gewichtsbelastung würde die Stabilität des Eises gebrochen, die ganze Front bräche zusammen. Das würde die Schmelzvorgänge insgesamt beschleunigen. Dieser Effekt wird bereits heute am westantarktischen Crane Gletscher und einigen Gletschern Grönlands beobachtet.

Man nimmt an, daß in der von den Forschern beispielhaft herangezogenen geologischen Epoche des Pliozäns nicht nur die globale Durchschnittstemperatur, sondern auch die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nicht viel höher war als heute. Was bedeutet es dann, sollten die heutigen CO2-Emissionen nicht drastisch reduziert werden und die CO2-Konzentration aus dem Pliozän übertroffen werden? Müßte man dann nicht davon ausgehen, daß dadurch ein noch stärkerer Meeresspiegelanstieg ausgelöst wird als damals? Die Folgen wären noch dramatischer.

Wenn Hans Joachim Schellnhuber ein Buch über die "Selbstverbrennung" der Menschheit schreibt, dann schließt er damit ein, daß durch den Anstieg des Meeres weitläufige Küstengebiete überschwemmt und in Zukunft zahlreiche Millionenstädte geräumt werden. Selbstverbrennung ist somit ein Bild, das nicht im Widerspruch dazu steht, daß die Zukunft für einige Weltregionen sehr naß werden kann.

Der Mensch sei zu einer geologischen Kraft geworden und habe durch seine Treibhausgasemissionen jetzt schon die Entstehung der nächsten Eiszeit unterdrückt, sagte der Klimaforscher mit Bezug auf eine jüngere Studie aus seinem Institut. Hier paßt der Buchtitel wieder: Der Beginn der Selbstverbrennung, den wir jetzt erleben und der von vielen Einzelstudien, wie sie oben beschrieben werden, dokumentiert wird, hat die nächste Eiszeit verhindert.


Fußnoten:

[1] Robert M. DeConto & David Pollard: Contribution of Antarctica to past and future sea-level rise, in: Nature 531, 591-597, 31. März 2016.
https://www.sciencedaily.com/releases/2016/03/160330130804.htm

[2] Prof. Schellnhuber war mit seinem Buch "Selbstverbrennung: Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff" einer von fünf Nominierten für den Leipziger Buchpreis 2016 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Das Interview mit Prof. Schellnhuber finden Sie unter DIE BRILLE → REPORT:
INTERVIEW/050: Leipzig, das Buch und die Messe - fast nach zwölf ... Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0050.html
Eine Rezension des Buchs "Selbsterverbrennung" finden Sie unter BUCH → SACHBUCH:
http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar653.html

3. April 2016


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