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RESSOURCEN/178: Lockruf der Tiefsee (SB)


Blue Growth

Die Erforschung der Tiefsee geht ihrer industriellen Nutzung stets voraus


Es müßte doch möglich sein, das globale Artensterben noch zu beschleunigen, scheinen sich die Befürworter der "blue economy", der wirtschaftlichen Erschließung der Weltmeere, zu sagen. Dieser zynische Eindruck drängt sich auf, ist es doch nun, da die leicht zugänglichen, landgebundenen Lagerstätten nach und nach ausgeschöpft werden, der rohstoffreiche Meeresboden, der verlockt. Die Tiefsee soll den Hunger einer Gesellschaft nach mineralischen Ressourcen stillen, deren bevorzugte Wirtschaftsweise von ihrem Wesen her expansiv und destruktiv ist. "Blue growth", "blaues Wachstum" lautet hierfür die beschönigende Umschreibung.

Nur mit dem Wissen über die Ökosysteme der Tiefsee kann ein nachhaltiger Umgang mit ihnen sichergestellt werden, lautet eine verbreitete Ansicht. "Nachhaltigkeit" bedeutet jedoch nicht, die Tiefsee unangetastet zu lassen, sondern sie so zu nutzen, daß die durch die wirtschaftliche Erschließung angerichteten Mangelfolgen nicht die fortgesetzte Nutzung beeinträchtigen. Und die Definitionshoheit darüber, was ein Schaden ist und was nicht, bestimmen in der Regel jene, die ein Interesse an der Nutzung der Tiefsee haben und die Nullösung ablehnen.

Anfang September wurde das Positionspapier einer multidisziplinären Forschergruppe für den European Marine Board (EMB) veröffentlicht, in dem die wichtigsten Herausforderungen für die Tiefseeforschung im 21. Jahrhunderts ausgelotet werden ("Delving Deeper: Critical challenges for 21st century deep-sea research"). [1] Die Forscher machen auf die Kluft zwischen dem Streben, die Ressourcen der Tiefsee erschließen zu wollen, und dem Mangel an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Meeresregionen außerhalb der nationalen Jurisdiktion - in der Hohen See - aufmerksam.

Professor Alex Rogers, Hauptautor und Leiter der Arbeitsgruppe, erklärte dazu, daß der Mangel an Basisdaten für Tiefseeökosysteme, die von dem Report identifiziert wurden, einen direkten Einfluß auf Umweltfolgengutachten habe. Denn ohne fortgesetzte Bemühungen, grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, würden die Bestimmungen und Governance zur Tiefsee bloße theoretische Übungen bleiben, aber sie folgten gewiß keinem wissensbasierten Entscheidungsprozeß. Die Forschergruppe hätte festgestellt, daß alle, von der Wissenschaft bis zur Industrie, die Notwendigkeit eines solchen Prozesses anerkennen, so Rogers.

Damit sagt Rogers aber weder etwas über die jeweiligen Motive aus, weswegen die Beteiligten die wissenschaftliche Erforschung der Tiefsee befürworten, noch welche Konsequenzen sie aus den Forderungen der Arbeitsgruppe hinsichtlich der Erforschung der marinen Ökosysteme ziehen werden.

Eigentlich ähneln sich das Aufsuchen und Erkunden der weißen Flecken auf der Landkarte durch die "Entdecker" der vergangenen Jahrhunderte auf der einen Seite und die heutigen Entdeckungsreisen mit Tauchbooten in die unbekannte Tiefsee auf der anderen. So wie einst die Berichte über Goldfunde im Westen Nordamerikas oder über sagenhafte indianische Goldschätze in Südamerika - der Begriff Eldorado (von spanisch El Dorado, "Der Goldene") spricht Bände -, die Unterwerfung bis hin zur Auslöschung der dem Raubzug im Wege stehenden Menschen ausgelöst haben, wäre anzunehmen, daß eine "blaue" Eroberungswelle ähnlich verheerende Folgen zeitigte. Schon heute weiß man, obgleich der Meeresboden der Hohen See nur exploriert, nicht exploitiert wird, daß sich durch die bergbaulichen Aktivitäten riesige Sedimentfahnen bilden können, die von den Meeresströmungen unter Umständen weit davongetragen werden.

Ob beabsichtigt oder nicht, auch heute noch könnten Forschungsreisen in die lichtlosen Weiten der Tiefsee Wegbereiter einer zukünftigen Ausbeutung der marinen Ressourcen sein. Beispielsweise war das deutsche Forschungsschiff "Sonne" im Dezember vergangenen Jahres zur Vema-Fracture-Zone (VFZ) im tropischen Atlantik aufgebrochen, weil auf dieser Expedition Erkenntnisse über die Lebewesen am und im Tiefseeboden gewonnen und auch der Meeresboden kartiert werden sollte. Das Anliegen der Forscherinnen und Forscher dürfte in groben Zügen dem entsprechen, was jetzt im Positionspapier des EMB gefordert wird: Man muß die Tiefsee kennenlernen, um sie bewahren zu können.

Nun wurden aber bei dieser Expedition überraschenderweise Manganknollen entdeckt. Die sind überaus rohstoffreich und werden immer dann als erstes erwähnt, wenn über einen zukünftigen Meeresbodenbergbau spekuliert wird.

Die Expeditionsteilnehmer haben einen Sack voll solcher Knollen mit nach Hause genommen. Man kann sich sicher sein, daß sie auf ihren Gehalt an begehrten Rohstoffen wie Kupfer, Cobalt, Zink und Nickel hin untersucht wurden. Gut vorstellbar, daß dies nicht die letzte Expedition einer Forschergruppe in die Vema-Fracture-Zone gewesen war und daß das Ziel einer zukünftigen Reise darin besteht, das Vorkommen an Manganknollen zu erfassen, um sie gegebenenfalls abzubauen.

Da nun in dem aktuellen EMB-Positionspapier eine intensivere Tiefseeforschung gefordert wird, damit abgesehen von gesellschaftlichen und rechtlichen auch Umweltfragen identifiziert werden, wäre dieses Anliegen nicht als Bollwerk gegen den Rohstoffabbau, sondern sogar als potentieller Urheber eben jener Probleme anzusehen, die eigentlich mit dieser Art der Forschung verhindert werden sollten. Zumal unter Meereskundlern durchaus der Standpunkt vertreten wird, daß die Industrie endlich mit dem Tiefseebergbau beginnen soll, damit die Wissenschaftler Daten über die ökologischen Auswirkungen erhalten und analysieren können.

In ihrem Positionspapier betont die Forschergruppe zwar, daß es wichtig ist, Alternativen zum Rohstoffabbau zu entwickeln; beispielsweise könne das Recycling von Seltenen Erden die Umweltauswirkungen des Tiefseebergbaus verringern und dazu beitragen, daß Europa der Übergang in die Kreislaufwirtschaft gelingt. Aber solche Vorschläge, mögen sie auch in guter Absicht vorgebracht sein, sind im Kern defensiv und eher als Bestandteil eines Rückzugsgefechts zu sehen denn als wirksame Gegenposition zum Verwertungsanliegen der Industrie. Warum nur wird die Nullösung für Tiefseebergbau nicht ins Zentrum der Bemühungen zum Schutze der marinen Umwelt gerückt?


Fußnoten:

[1] http://www.spacedaily.com/reports/Understanding_the_deep_sea_is_key_to_a_sustainable_blue_economy_999.html

3. September 2015


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