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INTERVIEW/003: Wataru Iwata, Mitglied der Bürgerinitiative CRMS in Fukushima (SB)


Wataru Iwata, Citizens' Radioactivity Measuring Station, auf der Pressekonferenz zu Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung in Japan am 15. August 2011 - Foto: © Xanthe Hall / IPPNW

Wataru Iwata, Citizens' Radioactivity Measuring Station,
auf der Pressekonferenz zu Gefahren für die
Gesundheit der Bevölkerung in Japan am 15. August 2011
Foto: © Xanthe Hall / IPPNW

Skype-Interview mit Wataru Iwata aus Fukushima am 19. August 2011

Während in hiesigen Medien hauptsächlich über sinkende Radioaktivitätswerte rund um das am 11. März durch ein Erdbeben und einen Tsunami größtenteils zerstörte Akw Fukushima Daiichi berichtet wird, leben die Einwohner Japans in ständiger Sorge, da sich die Strahlung immer mehr ausbreitet. Nach wie vor ist das havarierte Atomkraftwerk Wind und Wetter ausgesetzt, die Menge an verstrahltem Kühlwasser nimmt zu, und was sich derzeit im Untergrund in den Bereichen der Kernschmelzen und des Grundwassers abspielt, weiß niemand.

Kritiker bezeichnen die Informationspolitik der Regierung und der Betreibergesellschaft Tepco als Fortsetzung der Katastrophe. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Betroffene haben sich zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen, der CRMS (Citizens' Radioactivity Measuring Station). Ihre Mitglieder wollen in allen 47 Präfekturen des Landes Stationen zur Messung der radioaktiven Verstrahlung von Lebensmitteln, anderen Waren und Personen einrichten. Am 15. August 2011 hielten Frau Aya Marumori und Herr Wataru Iwata als Vertreter der Bürgerinitiative eine Pressekonferenz in Berlin ab, in der sie die Lage vor Ort und ihr Anliegen schilderten. Die Organisation IPPNW ("International Physicians for the Prevention of Nuclear War") unterstützt die japanische Initiative unter anderem mit 5.000 Euro. Darüber hinaus gibt sie und die Gesellschaft für Strahlenschutz ihre Erfahrungen im Aufbau und Betrieb von Bürgermeßstationen weiter.


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Schattenblick: Herr Iwata, Sie beteiligen sich an der Bürgerinitiative CRMS. Worum geht es dabei?

Wataru Iwata: Obwohl die meisten von uns nur Studenten sind, führen wir mit Geigerzählern regelmäßig Radioaktivitätsmessungen sowohl in der Umgebung als auch an den Menschen selbst und den Lebensmitteln durch.

SB: Gab es Ihre Organisation bereits vor der Zerstörung des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi im März dieses Jahres durch das Erdbeben und den Tsunami oder wurde sie erst danach gegründet?

WI: Sie existierte vorher nicht. Wir haben sie erst in Reaktion auf die mangelnde und verharmlosende Informationspolitik des Reaktorbetreibers Tepco und der Tokioter Regierung ins Leben gerufen.

SB: Was sagen Ihre Messungen der letzten Wochen aus?

WI: Seit dem Reaktorunglück stellen wir einen kontinuierlichen Anstieg der Menge an Radioaktivität in der hiesigen Umgebung fest. Das geben nicht nur unsere Geräte, sondern auch die Beobachtungen der Menschen vor Ort her. Gleich am Tag nach der Havarie versuchte Tepco die gestiegene Radioaktivität entlang der Küste der Präfektur Fukushima zu einem einmaligen Vorgang, zu einem Auslaufen von Resten an Spaltmaterial zu erklären. Daß das nicht stimmt, wird dadurch bewiesen, daß die Messungen für Radioaktivität immer höhere Werte ergeben. Da das ursprüngliche Unglück ein so enormes Ausmaß annahm, läßt es sich im Einzelfall allerdings kaum bestimmen, ob eine Kontamination von damals stammt oder neueren Datums ist.

SB: Aber man kann auf jeden Fall sagen, daß die Verstrahlung insgesamt zunimmt?

WI: Zweifelsohne, und das nicht nur in Fukushima. Als wir von unserer Reise nach Europa zurückkehrten, habe ich erhöhte Strahlenwerte in Tokio gemessen. Das läßt einen vielleicht ahnen, wie schlimm die Lage in Fukushima selbst sein muß. Tepco und das Ministerium für Bildung und Wissenschaft spielen das Ganze herunter, indem sie Luftmessungen nur für 10 bis 30 Minuten pro Tag durchführen. Das bedeutet, daß die Menschen gar nicht mitbekommen oder in Kenntnis gesetzt werden, wann die Verantwortlichen bei den Aufräumarbeiten in Fukushima radioaktiv belasteten Dampf aus den beschädigten Reaktoren freisetzen.

SB: Möglicherweise werden die Messungen an Zeitpunkten durchgeführt, bevor radioaktiver Dampf abgelassen oder radioaktives Wasser ins Meer geleitet wird.

WI: Das kann sein. Wir wissen es einfach nicht, denn sie geben nur ganz wenig Informationen heraus. Fakt ist aber, daß die Werte für radioaktive Strahlung hier in der Präfektur Fukushima immer noch zunehmen.

SB: Wo genau führen Sie Ihre Messungen durch?

WI: Wir haben bisher drei Meßstationen in der Präfektur Fukushima einrichten können - eine in Fukushima-Stadt, eine in der Stadt Koriyama und eine in der Stadt Soma.

SB: In den ersten Wochen nach dem Super-GAU berichteten die Medien über die Entdeckung sogenannter Hotspots, an denen die radioaktive Strahlung besonders hoch war. Wie gehen die Behörden vor, wenn irgendwo ein Hotspot festgestellt wird - evakuieren sie die dortigen Bewohner, erklären sie das Gebiet zur Sperrzone und lassen niemanden hinein?

WI: Wir haben zahlreiche Hotspots identifiziert - mitunter in einer Entfernung von bis zu 60 Kilometer vom havarierten Kernkraftwerk. Wir haben sogar auf einem Kinderspielplatz eine radioaktive Strahlung von mehr als 60 Mikrosievert pro Stunde festgestellt. Und da haben die Behörden gar nichts gemacht. Es werden nur ganz wenige Areale dekontaminiert, denn es ist den Behörden der Präfektur Fukushima, der Zentralregierung in Tokio und Tepco offenbar zu teuer und zu aufwendig, jedes Gebiet, in dem es eigentlich erforderlich wäre, zu evakuieren und von Radioaktivität zu säubern.

SB: Wie gut werden die verstrahlten Menschen medizinisch versorgt? Werden sie von der restlichen Bevölkerung abgesondert und getrennt behandelt? Wie geht man mit ihnen um?

WI: Sie sind in der Gesellschaft nach wie vor voll integriert. Vor einigen Wochen haben die Gesundheitsbehörden der Präfektur Fukushima ein medizinisches Begleit- und Testprogramm für die rund 28.000 Strahlenopfer angekündigt. Leider haben wir den Eindruck, daß es sich hier weniger um ärztliche Betreuung im eigentlichen Sinne als vielmehr um ein epidemiologisches Großprojekt handelt, in dem die Betroffenen weniger als Patienten denn als Versuchstiere betrachtet werden. Die Behördenvertreter behaupten, daß die meisten dieser Menschen nichts zu befürchten hätten, weil sie an Strahlung nicht mehr als 100 Millisievert abbekommen hätten, und daß sie die Tests lediglich durchführen, um den Sorgen in der Bevölkerung gerecht zu werden. Das klingt für uns wie bloße Beschwichtigung, zumal einzelne Menschen bereits über Gesundheitsbeschwerden klagen.

SB: Wie ergeht es den Menschen, die evakuiert wurden und ihre Wohnungen verlassen mußten, leben sie weiterhin in Notunterkünften?

WI: Man hat es hier mit zwei Evakuierungswellen zu tun. Zunächst gibt es die Menschen, die ihre Häuser beim Erdbeben und dem Tsunami verloren haben, und dann gibt es die Leute, die aus der 20-Kilometer-Sperrzone rund um das Kraftwerk evakuiert werden mußten. Insgesamt reden wir hier von rund 300.000 Menschen, die umgesiedelt wurden. Die meisten von ihnen wohnen nach wie vor in Notunterkünften wie Sporthallen und ähnlichem. Und weil es noch mehr Evakuierungen mit sich brächte, weigern sich die Behörden, die Sperrzone um das AKW zu erweitern. Sie sagen, sie können nicht noch mehr Menschen evakuieren, weil dann der Wiederaufbau in den von Erdbeben und Tsunami zerstörten Gebieten überhaupt nicht vorankäme. Wenngleich man die Argumente aus kurzfristiger Sicht nachvollziehen kann, bergen sie in dem Gebiet rund um die Sperrzone langfristig große gesundheitliche Gefahren für die Menschen im allgemeinen und die Kinder im besonderen.

SB: Wie werden die Evakuierten aus der Sperrzone von den staatlichen Gesundheitsbehörden medizinisch betreut?

WI: Sie werden überhaupt nicht medizinisch betreut - selbst dann nicht, wann die Eltern zum Beispiel ihr Kind mit verdächtigen Symptomen wie Nasenbluten zum Arzt bringen. Sie behaupten, das könne nicht auf die Strahlung zurückgehen, denn die Menschen hätten weniger als 100 Millisievert abbekommen.

SB: In den ersten Tagen nach dem Reaktorunglück soll es in der Präfektur Fukushima nicht nur wegen der Zerstörungen zu einer Lebensmittelknappheit gekommen sein, sondern auch weil Händler und Lastwagenfahrer aus Angst vor einer Verstrahlung nicht in das betroffene Gebiet fahren wollten. Hat sich dieses Problem inzwischen behoben?

WI: Das ist kein Problem mehr. Derzeit besteht das größte Problem darin, daß noch immer Menschen in hochverstrahlten Regionen leben.

SB: Einige Wochen nach der mehrfachen Kernschmelze kam es in Fukushima Daiichi zu einem Vorfall, bei dem drei Arbeitern stark verstrahltes Wasser in die Gummistiefel geflossen war und sie sofort notbehandelt werden mußten. Der Vorfall sorgte weltweit für Aufsehen. Wissen Sie vielleicht, was aus diesen Personen geworden ist?

WI: Ich habe damals von dem Vorfall gehört. Doch was mit den drei Männern letztlich passiert ist, weiß ich nicht.

SB: Was geschieht derzeit mit den landwirtschaftlichen Produkten aus der Präfektur Fukushima, die radioaktiv kontaminiert sind? Werden sie weiterhin verkauft und zum Verzehr angeboten oder werden sie mit anderen Lebensmitteln vermischt, um sie unter bestimmte Strahlungswerte zu drücken, so daß sie weiterhin auf den Markt gebracht werden können? Werden vielleicht manche Lebensmittel einfach vernichtet?

WI: Seitens der Behörden erfahren wir hierüber sehr wenig. Aufgrund unseren eigenen Messungen wissen wir jedoch, daß sich radioaktiver Niederschlag aus den Unglücksreaktoren über weite Teile der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Präfektur Fukushima abgesetzt hat. Das bedeutet aber nicht, daß alle landwirtschaftlichen Produkte aus Fukushima radioaktiv verseucht sind. Obst und Gemüse, die in Gewächshäusern angebaut werden, sind natürlich völlig unbelastet. Wir wissen praktisch nichts darüber, was mit den verstrahlten Lebensmitteln gemacht wird, ob sie noch verarbeitet oder ob sie vernichtet werden. Die Behörden haben verfügt, daß Lebensmittel, die eine höhere radioaktive Belastung als 500 Becquerel pro Kilogramm aufweisen, nicht zum Verzehr angeboten werden dürfen. Aber alles, was darunter bleibt, darf in den Handel gelangen.

SB: Könnte es sein, daß Lebensmittel aus Fukushima billiger verkauft und in Folge dessen wahrscheinlich eher von ärmeren Menschen gekauft und verzehrt werden, während wohlhabendere Personen etwas mehr für unbelastetes Essen ausgeben?

WI: Ausschließen kann man das nicht, aber davon habe ich bisher nichts gehört. Im Großen und Ganzen blieben die Lebensmittelpreise bei uns hier in Fukushima auch nach dem dreifachen Unglück stabil. Generell kann man jedoch sagen, daß die Lebensmittel aus Fukushima im restlichen Japan zu sehr niedrigen Preisen angeboten werden.

SB: Was unternimmt die Anti-AKW-Bewegung in Japan zur Zeit? Werden neue Protestaktionen vorbereitet?

WI: So genau kann ich es Ihnen zur Zeit nicht sagen, denn wir sind ja gerade erst von einer zehntägigen Europareise zurückgekehrt. Nichtsdestotrotz kann man nicht bestreiten, daß das Ansehen der Atomindustrie in Japan durch die Ereignisse in Fukushima Daiichi enorm gelitten hat. Hielten sich in der Öffentlichkeit früher viele Menschen mit ihrer Kritik oder ihren Zweifeln an der japanischen Atompolitik zurück, so ist das heute nicht mehr der Fall. Über das Thema wird öffentlich heiß diskutiert. Die Kritiker der Kernenergie erleben einen enormen Zulauf.

SB: Wie ist die Stimmung im Land mehr als fünf Monate nach dem Reaktorunglück? Nehmen die Menschen die von Fukushima Daiichi ausgehende Gesundheitsbedrohung nicht mehr so wahr und hat die Berichterstattung der Medien über das Thema nachgelassen?

WI: Das Thema bewegt die einfachen Menschen nach wie vor. Doch bis auf einzelne Berichte kritischer Redaktionen bei Presse und Rundfunk hat das Interesse der großen Medien nachgelassen. Ähnlich wie unter den Verantwortlichen bei den Behörden wollen sich die Vertreter der großen Medien nicht ernsthaft mit der Lage in Fukushima Daiichi auseinandersetzen, sondern spielen sie lieber herunter.

SB: Noch im Mai hat Premierminister Naoto Kan die Abkehr Japans von der Atomindustrie verkündet, zugleich aber betont, daß die Umstellung auf regenerative Energien langwierig sein würde. Halten Sie die Ankündigung Kans für seriös?

WI: Ich weiß es nicht. Mir ist nicht klar, wie er den Atomausstieg bewerkstelligen will, selbst wenn er es ernstgemeint hat. Ich richte mich jedenfalls nicht nach den Verlautbarungen des Premierministers.

SB: Was meinen Sie, wie es mit der japanischen Atomindustrie weitergehen soll?

WI: Angesichts des gigantischen Ausmaßes des Unglücks in Fukushima Daiichi ist allen klar, daß Japans bisherige Atompolitik nicht einfach fortgesetzt werden kann. Die Vorgänge haben gezeigt, daß die Menschheit die Kernkraft nicht unter Kontrolle hat und vielleicht sogar niemals vollständig in den Griff bekommen wird. Das radioaktive Material, das die Atomindustrie produziert, werden wir niemals los, sondern müssen es auf Jahrtausende hinaus so sicher wie möglich aufbewahren. Um einen Atomausstieg und eine Energiewende in Japan zu schaffen, wäre ich vielleicht bereit, den Strom aus den auslaufenden Kernkraftwerken zu benutzen. Doch im Grunde genommen handelt es sich um eine Technologie, deren Gefahrenpotential und Gesundheitsrisiken für die Menschheit viel zu schwer wiegen.

SB: Heute gab es Berichte von einem neuen schweren Erdbeben vor der Küste Fukushimas. Haben Sie vielleicht etwas darüber gehört, ob dadurch erneut Schäden an den Atomkraftwerken verursacht wurden?

WI: Das Erdbeben war hier in Fukushima-Stadt zu spüren. Ich mache mir große Sorgen um seine möglichen Auswirken auf das Atomkraftwerk, denn Reaktor 4 zum Beispiel steht seit dem 11. März nicht mehr stabil, sondern befindet sich in einer Schieflage. Er lehnt zu einer Seite. Es besteht die Gefahr, daß das Reaktorgebäude kollabiert.

SB: Herr Iwata, wir bedanken uns bei Ihnen für diese aufschlußreichen Informationen.

22. August 2011