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BERICHT/025: Down to Earth - Erfahrungen, Praxis, Perspektiven (SB)


Prof. Klaus Töpfer und Prof. Anne Buttimer melden sich zu Wort



Das Aushängeschild des 32. Weltkongresses der Geografie, der am 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln und damit nach über 100 Jahren erstmals wieder in Deutschland stattfand, waren die täglichen Keynote Lectures, die in der meist gut gefüllten Aula des Hauptgebäudes gehalten wurden. Eine bekannte Persönlichkeit und ein Geograf sollten je etwa eine halbe Stunde zu relevanten gesellschaftlichen Themen sprechen.

Am Montag referierten schon bald nach Abschluß der Pressekonferenz [1] und nach einer kurzen Vorstellung durch Prof. Dr. Boris Braun vom Geographisches Institut der Universität zu Köln Prof. Klaus Töpfer zum Thema "On the way to the Anthropocene. Consequences for scientific research, societal understanding and political responsibility" (Auf dem Weg ins Anthropozän. Konsequenzen für wissenschaftliche Forschung, gesellschaftliche Verständigung und politische Verantwortung) und Prof. Anne Buttimer zu "Diverse perspectives on society and environment: retrospect and prospect" (Unterschiedliche Sichtweisen auf Gesellschaft und Umwelt: Rückblick und Aussicht).

Referent hinter dem Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Klaus Töpfer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit "Anthropozän" hatte sich Töpfer ein Thema ausgesucht, über das innerhalb der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird: Ist der Einfluß des Menschen auf den Planeten wirklich so groß, daß sich dies in der geologischen Formation, die gegenwärtig gebildet wird, niederschlägt? Und würde in ferner Zukunft irgend jemand, der in die heutige geologische Epoche zurückblickte, aus den dann als Proxydaten vorliegenden diagenetisch verfestigten Meeressedimenten (Versauerung des Milieus, Artensterben, Vermüllung des Meeresbodens, Kontamination der Ozeane) Einflußnahmen des Menschen ablesen können? Wäre daran erkennbar, daß der Homo sapiens vielleicht doch nicht so weise war und sich in zunehmenden Maße seiner eigenen Lebensvoraussetzungen beraubt hatte?

Während die International Stratigraphic Commission (ICS), der die Namensgebung geologischer Stufen obliegt, in Erwägung zieht, die gegenwärtige Epoche, die Holozän genannt wird, durch das Anthropozän ablösen zu lassen, besteht für Nicht-Stratigraphen wohl kaum ein Zweifel daran, daß der Mensch seine Umwelt so massiv verändert wie gegenwärtig keine andere Art. Ob das dann auch geologisch manifest wird, bleibt eine Frage, die den Experten überlassen werden kann.

Zweifellos nutzt der Mensch die Erdatmosphäre als ungeregeltes Endlager für Treibhausgase und die Meere als Müllplatz für allerlei Substanzen - Phosphor und Ammoniak aus der Landwirtschaft, Erdöl aus der Offshore-Förderung, chemische Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg, Radionukleotide sowohl aus der Atomwaffenforschung als auch aus Akw- und Atom-U-Boot-Havarien, etc. Und abgesehen von Luft und Wasser bleibt auch die Erde nicht vom menschlichen Einfluß verschont: Ackerflächen verkarsten, versalzen und verlieren an organischen Anteilen. Die fossilen Grundwasserspeicher werden leergepumpt. Riesige Talsperren unterbrechen den Lauf der Flüsse, Infrastrukturtrassen durchschneiden die Oberfläche, urbane Betonflächen rücken weiter und weiter ins Umland vor. Und selbst in Deutschland, das sich gern als weltweite Spitze in Sachen Umweltschutz ansieht, werden ganze Landschaften weggerissen, nur um an den Rohstoff in der Erde darunter zu gelangen.

Klaus Töpfer wählte in seinem Vortrag ein sprichwörtlich naheliegendes Beispiel zur Erläuterung der Umgestaltung der Erdoberfläche durch den Menschen: die Begradigung des Rheins schon vor fast zwei Jahrhunderten. Die notwendigen Ausgleichsflächen, sogenannte Polder, um dem hierbei entstandenen Hochwasserrisiko zu begegnen, wären nie geschaffen worden, was aber jederzeit korrigiert werden könne, erklärte er. Die direkten und indirekten Auswirkungen der Manipulationen am Flußbett seien in diesem Fall jedoch begrenzt, beeinträchtigten nicht die Lebensverhältnisse von weit entfernt lebenden Erdbewohnern und sie seien reversibel. Heute dagegen fänden unumkehrbare Veränderungen statt. In einer Zeit der synthetischen Biologie, der künstlichen Intelligenz, der Dekodierung des Genoms und des Proteoms reiche die quasi-geologische Kraft viel weiter als bis zur Umgestaltung der Oberfläche.

Diese Auswahl an Beispielen überraschte dann doch. Denn so sehr die von Töpfer genannten wissenschaftlichen Entwicklungen das Menschenbild verändert haben und voraussichtlich noch verändern werden, so wenig läßt sich erkennen, was sich daran geologisch niederschlagen sollte. Hier hätte es vielleicht einiger erläuternder Worte bedurft, warum nicht augenscheinlichere Einflüsse - beispielsweise die fossile Energiewirtschaft - als Beleg der quasi-geologischen Kraft der Menschheit gewählt wurde. Zumindest wäre ein solches Beispiel für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Vortrags nachvollziehbarer gewesen, und es hätte sich auch vortrefflich mit den Ausführungen im "Potsdam Memorandum", welches das Ergebnis eines 2007 unter Beteiligung von 15 Nobelpreisträgern abgehaltenen Symposium ist, auf das sich Töpfer mehrfach ausdrücklich bezog, gepaßt.

Wie gesagt, damit soll nicht der Wandel des Menschenbilds unterschätzt werden, zu dem auch Forschungen auf dem Gebiet der Synthetische Biologie, der künstlichen Intelligenz sowie der Dekodierung des Genoms und des Proteom beigetragen haben. Und irgendwo korrespondiert dieser Fortschritt sicherlich auch mit Veränderungen, um deren Beschreibung und Analyse sich speziell die Geologen bemühen.

Prof. Töpfer beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der menschliche Einfluß auf die Umwelt wird zu einer quasi-geologischen Kraft Foto: © 2012 by Schattenblick

Darüber hinaus hat der frühere Bundesumweltminister und Leiter des UN-Umweltprogramms UNEP einen Punkt angesprochen, der von einiger Brisanz ist und in Zukunft zu schwerwiegenden Konflikten führen könnte, das Climate Engineering, auch Geoengineering genannt. Höchste Priorität im Kampf gegen die Erderwärmung sollte die Vermeidung bzw. Minderung (im Fachjargon: Mitigation) von Treibhausgasen genießen, stellte Töpfer klar. Selbstverständlich dürfe auch auf Anpassungsmaßnahmen (adaptation) nicht verzichtet werden. Aber wenn beides nicht oder nicht rechtzeitig greife und die Menschheit mit einer, wie der Weltklimarat IPCC erklärt habe, "emerging situation" (zu deutsch: "sich bereits abzeichnenden Situation") konfrontiert werde, müsse man als Notfallplan über Climate Engineering nachdenken und selbstverständlich dessen mögliche negativen Folgen erforschen.

Diese noch sehr allgemein gehaltene Aussage könnte als leise Kritik wiederum an der Kritik eines konkreten Climate Engineerings-Projekts verstanden werden, des von britischen Forschern betriebenen Experiments SPICE. Dabei sollen mit Hilfe eines Ballons Wassertröpfchen in der Atmosphäre verteilt werden, damit sich Wolken bilden, welche die Sonneneinstrahlung abhalten, noch bevor sie auf die Erdoberfläche trifft und sie aufheizt. Möglicherweise bezog sich Töpfer nicht allein mit seiner versteckten Kritik auf die konkreten Climate-Engineering-Versuche in Großbritannien, sondern auch mit seiner Forderung, daß die Zivilgesellschaft frühzeitig an der Entstehung von Wissenschaft beteiligt werden müsse. Das war nämlich in diesem Fall von den beteiligten Wissenschaftler versäumt worden. Die Menschen sollten nicht nur irgendwann an der Wissenschaft partizipieren, sagte Töpfer, sondern transdisziplinär Einfluß darauf haben.

Mit "transdisziplinär" verwendete er einen Begriff, der im sogenannten Wissenschaftsdiskurs an die Stelle des einst als innovativ geltenden Begriffs "interdisziplinär" getreten ist. Bei der Transdisziplinarität werden die Grenzen traditioneller Forschungsdisziplinen immer mehr aufgelöst. Das wird bei einem Blick auf die Internetseite des Bundesforschungsministerium deutlich, wo von der Förderung von Forschungsfeldern, von Exzellenzinitiativen und Wissenschaftsclustern die Rede ist. Töpfer bevorzugt offenbar eine weit gefaßte Definition, indem er die Integration gesellschaftlicher Interessen jenseits etablierter Strukturen in die Produktion von Wissenschaft einfordert und sagt, daß die Zivilgesellschaft bei der Entstehung von Wissenschaft mitreden müsse.

Ausdrücklich nahm der Referent Bezug auf Hans Jonas' 1979 erschienenes Buch "Das Prinzip Verantwortung", in dem der deutsche Philosoph unter anderem fordert, daß die Technologie bei der Umgestaltung der Natur Verantwortung auch für zukünftige Generationen übernehmen müsse. In der heutigen Umwelt- und Entwicklungsbewegung lebt diese Idee in Forderungen nach "globaler Gerechtigkeit" und "Generationengerechtigkeit" wieder auf.

Alles in allem handelte es sich um eine Rede, in der nicht unbedingt jede Aussage schlüssig hergeleitet wirkte, aber in der aktuelle Debatten in Wissenschaft und Gesellschaft zum Einfluß des Menschen auf den Planeten aufgegriffen und erörtert wurden. In Anlehnung an Karl Polanyi und auch das oben erwähnte Potsdamer Symposium aus dem Jahr 2007 sprach Töpfer von der Großen Transformation der Gesellschaft, um den globalen Herausforderungen zu begegnen.

Referentin beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Anne Buttimer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Einen gänzlich anderen Charakter verlieh Prof. Dr. Anne Buttimer vom University College Dublin ihrer Rede. Die frühere Präsidentin der International Geographical Union (2000-2004) kündigte an, daß sie über Denkkonzepte zu Gesellschaft und Umwelt sprechen und dabei den Wert insbesondere von Gegenstimmen innerhalb der Ideengeschichte betonen möchte. Dabei werde sie hauptsächlich über die westliche Tradition sprechen. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt habe sich dramatisch in der Welt gewandelt, jede Gesellschaft habe die Neigung, nur sich selbst zu sehen.

Dem wollte Buttimer offensichtlich ihre eigene "counterpoint voice" (kontrapunktierende Stimme) entgegenhalten, indem sie innerhalb von gut zwanzig Minuten einen Parforceritt durch die Zeiten hinlegte, angefangen von dem heraklitischen Weltbild, in dem Universum und Mensch als miteinander verbunden angesehen wird, bis zu Sokrates' Lehre, in der Bewußtsein (nous) vom Sein (physis) getrennt angenommen wird. Diese Trennung habe durch die Jahrhunderte hindurch unser Denken beeinflußt, sagte Buttimer, die sich erklärtermaßen von den Konzepten der Mystiker, hier insbesondere Meister Eckarts (1260-1328), angesprochen fühlt. Im Lauf der Geschichte seien auch Gegenstimmen laut geworden, die Nous und Physis wieder zusammengeführt hätten, beispielsweise Leonardo da Vinci (1452-1519) und Hildegard von Bingen (1098-1179). Die "eigentliche" Gegenstimme ging nach Buttimer von dem russischen Geografen Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) aus.

Hatte man sich zwischenzeitlich bei dem Vortrag gefragt, worauf die Referentin hinauswollte, so wurde dies im Schlußdrittel deutlich, in dem sie mehr und mehr ihren eigenen Standpunkt zu der Frage einfließen ließ, wie man von der theoretischen zur angewandten Wissenschaft gelangt. So hatte sie gemeinsam mit dem Forscher Thorsten Hägerstrand in Schweden eine umfangreiche Studie zu Berufsauffassungen durchgeführt und herausgefunden, daß von vier Einstellungen, die sie "poesis" (Entdeckung und Innovation), "paideia" (Ausbildung), "logos" (systematisches Wissen) und "ergon" (Handlung) zuordnete, die "poesis" abgenommen hat.

Begleitet von einer Serie an auf sympathische Weise unperfekt wirkenden Power-point-Bildern, die von ihrem verstorbenen Gatten Bertram Broberg (1925-2005) noch per Hand gezeichnet worden waren, erläuterte sie schließlich die Bedeutung der vier ihrer Humangeografie zugrundeliegenden Metaphern der Weltsicht: "Arena", "Mosaic", "Mechanism" und "Organism". "Arena" steht für die Welt als Ereignisse, "Mosaic" für die Welt der Formen, "Mechanism" für das mechanische Weltbild und "Organism" für die Welt als organisches Ganzes.

Ein häufig begangener Fehler der Geografie sei es, diese unterschiedlichen Weltanschauungen nicht zu berücksichtigen. Geografie sollte integrativ sein. Jede dieser vier Sichtweisen beruhe auf einer anderen "Wahrheit" (Truth) und erfordere dementsprechend eine besondere Würdigung. Kurz zusammengefaßt lautet Buttimers Resümee: Im Laufe der Jahrhunderte hat es dominante Weltanschauungen und Gegenstimmen gegeben. Auf letztere kommt es an.

Den Geografen legte sie ans Herz, zur "Feldarbeit" zurückzukehren, Aufzeichnungen zu machen, Messungen vorzunehmen und zu analysieren. Geografen sollten nicht in den Journalen anderer Disziplinen lesen, sondern unmittelbare Forschung betreiben, face to face. Ein Ergebnis dieser Form der Auseinandersetzung sei die Initiative, ein "Year of the Earth" auszurufen.

Wir befänden uns lange Zeit in faustischer Abhängigkeit, griff Buttimer gegen Ende ihres Vortrags weiter in die Metaphern- und Mysterienkiste. Mancher Befreiungsruf sei wie ein Phönix. Anfangs höre ihn niemand, so müsse er sterben. Aber genau das könnte die Menschen dazu bringen, daß sie etwas vermissen. Und so käme der Phönix wieder hervor.

Nun, ein klein wenig faustische Hinterlist muß man auch der Referentin attestieren, denn mit ihrem Bekenntnis zu Kropotkin auf diesem traditionsreichen Kongreß einer altehrwürdigen Wissenschaftsdisziplin rückte sie nicht einfach nur einen Geografen ins Scheinwerferlicht, sondern zugleich einen Anarchisten und Sozialisten, der politisch verfolgt worden war und eine Zeitlang im Gefängnis gesessen hat.

So menschlich nachvollziehbar Buttimers Hoffnung ist, daß sich der Phönix aus der Asche erheben wird, sollte insbesondere einer Forschungsdisziplin wie der Geografie, die sich um das Erfassen von komplexen Zusammenhängen bemüht und auch scheinbar Nebensächliches in den Blick nimmt, auffallen, daß in der Phönix-Analogie zunächst sehr viel Asche produziert wird. Es muß also ein gewaltiges Vernichtungswerk vonstatten gegangen sein, bevor sich daraus der Vogel erheben konnte. Der dürfte dann längst nicht mehr so groß und mächtig sein wie vor dem großen Brand. Bezogen auf die enormen Probleme der Menschheit, von denen bereits düstere Wolken am Horizont künden (Klimawandel, Ressourcenknappheit, etc.), könnte das bedeuten, sich nicht länger als nötig mit der Hoffnung aufzuhalten.

Dennoch: Buttimers Vortrag wie auch der Klaus Töpfers - obgleich er ein bekennender Nicht-Geograf - haben einen deutlichen Eindruck hinterlassen, welche Breite und auch Tiefe in der Geografie steckt. Und sie hatten, was nicht vergessen werden sollte, die Neugier auf die kommenden Keynote Lectures geweckt.

Fußnoten:
[1] Näheres zur Pressekonferenz in diesem Pool unter:
BERICHT/024: Down to Earth - Kongreßlotsen (SB)

Prof. Dr. Anne Buttimer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein Plädoyer für die Gegenstimmen in der Ideengeschichte
Foto: © 2012 by Schattenblick

13. September 2012