Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/147: Klimawandel - Zertifikationshandel befördert Emissionen ... (SB)


Podium mit Andrea Meyer, Leiterin des Referats Grundsatzangelegenheiten des Klimaschutzes, Klimaschutzplan im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Jule Reimer (Moderatorin), Deutschlandfunk, Dr. Artur Runge-Metzger, Abteilungsleiter in der Generaldirektion Klimapolitik der Europäischen Kommission, Sven Harmeling, Climate Change Advocacy Coordinator bei CARE International - Foto: © 2018 by Schattenblick

"Ernst gemeinter Klimaschutz und internationale Verantwortung - Handlungsdruck für Deutschland"
Podiumsgespräch unter Gleichgesinnten
Foto: © 2018 by Schattenblick

Nach China und den USA ist die Europäische Union der größte Treibhausgasemittent der Welt. Industrie, Haushalte und Verkehr stoßen große Mengen Abgase aus, deren Hauptbestandteil Kohlenstoffdioxid (CO₂) ist. Darüber hinaus produziert die Landwirtschaft vor allem die als CO₂-Äquivalente gerechneten Treibhausgase Methan und Lachgas. Keine Frage: Welche Klimaschutzmaßnahmen die EU ergreift oder eben nicht ergreift, wird nennenswerten Einfluß auf die globale Erwärmung haben.

Bei anhaltendem Trend der gegenwärtig global emittierten Treibhausgase würde eine Welt entstehen, die im Durchschnitt drei bis dreieinhalb Grad wärmer ist als die Welt in vorindustrieller Zeit vor rund 200 Jahren. Bei drei Grad Erwärmung könnten Klimazonen entstehen, in denen kein Mensch leben kann, und viele hundert Millionen Menschen müßten ihre Heimat verlassen. Wahrscheinlich wäre eine Drei-Grad-Welt, so verheerend die Lebensverhältnisse dann auch wären, nur eine Übergangsphase zu einer noch heißeren, unwirtlicheren Erde.

Bereits seit vielen Jahren werden sowohl auf Ebene der Europäischen Union als auch der einzelner Mitgliedstaaten zahlreiche Maßnahmen zur sogenannten Dekarbonisierung (Kohlenstoffreduzierung) ergriffen. Laut Umweltbundesamt steht dabei eine Maßnahme im Zentrum, das Europäische Emissionshandelssystem: "Der Europäische Emissionshandel (EU-ETS) ist seit 2005 das zentrale Klimaschutzinstrument der EU" [1].

Mit diesem Handelssystem sollen besonders emissionsreiche Wirtschaftszweige dazu gebracht werden, weniger CO₂ auszustoßen. Vereinfacht gesagt, so, wie jeder Haushalt und jedes Unternehmen Gebühren für Abwasser bezahlt, sollen jene ausgewählten Unternehmen auch Gebühren für ihre Abgase bezahlen, mit denen sie das Klima anheizen. Dazu haben die Behörden berechnet bzw. festgelegt, wie hoch die CO₂-Emissionen einzelner Unternehmen sind. Das wurde dann in Zertifikate bzw. Emissionsberechtigungen (European Union Allowance, EUA) umgerechnet. Dabei entspricht ein Zertifikat (1 EUA) einer Tonne CO₂-Emissionen.

In der Theorie gilt das System als sehr effizient - zumindest im Rahmen marktwirtschaftlich organisierter Volkswirtschaften - weil, wenn die Nachfrage nach Zertifikaten größer ist als das Angebot, der Preis pro Zertifikat steigen würde. Um die wachsenden Kosten durch den Erwerb von Zertifikaten zu vermeiden, würden die Unternehmen dazu gebracht, weniger CO₂ zu emittieren. Das wäre der gewünschte Lenkungseffekt für den Klimaschutz.

In der Praxis dagegen nehmen sich die Klimaschutzeffekte sehr bescheiden aus, um es vorsichtig zu formulieren. Abgesehen davon, daß der EU-ETS regelrechte Betrügereien ermöglicht hat, hat der jahrelang niedrige Zertifikatepreis, der eine Zeitlang bei rund fünf Euro pro Tonne emittiertes CO₂ dümpelte, nicht das erwünschte Ergebnis gebracht. Die Unternehmen sahen sich nicht genötigt, ihre CO₂-Emissionen zu verringern, weil die dazu erforderlichen Maßnahmen teurer geworden wären, als weiter wie bisher Treibhausgase zu emittieren und dafür Zertifikate zu erwerben. Experten zufolge müßte der CO₂-Preis bei über 50 Euro/Tonne liegen, damit ein so starker Lenkungseffekt eintritt, daß die Industrie ihren Anteil an der Reduzierung der globalen Erwärmung einhält und das 2016 in Kraft getretene Klimaschutzübereinkommen von Paris zumindest so weit erfüllt wird, als daß das Mindestziel eingehalten wird, nämlich die globale Erwärmung auf unter zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen.

Wünschenswert wäre jedoch eine Begrenzung auf 1,5 Grad, sagt das Übereinkommen von Paris ebenfalls, und der Weltklimarat IPCC hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben, die herausfinden sollte, was der Unterschied hinsichtlich der Auswirkungen zwischen zwei und 1,5 Grad wäre, welche Emissionspfade dazu jeweils beschritten werden müßten und wie das ganze noch mit den Nachhaltigkeitszielen (SDG) der Vereinten Nationen zu verbinden ist. Dieser "Sonderbericht 1.5" wurde am 8. Oktober 2018 in der südkoreanischen Stadt Incheon der Öffentlichkeit vorgestellt und hat weltweit ein breites Medienecho ausgelöst.

Der Sonderbericht 1.5 stand auch im Mittelpunkt einer Konferenz mit dem Titel "Jedes Zehntelgrad zählt!", die am 23. Oktober 2018 von der Klima-Allianz Deutschland und VENRO - Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. in Berlin veranstaltet worden worden war. Zu dem Treffen waren Vertreterinnen und Vertreter der EU-Kommission, mehrerer Bundesministerien und der Zivilgesellschaft angereist. Man war sich weitgehend einig darin, daß das Zwei-Grad-Ziel aus dem Pariser Abkommen inakzeptabel ist und unbedingt das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden muß, um Folgeschäden und Verluste für einen erheblichen Teil der Menschheit zu vermeiden. Da fielen Aussagen wie, wir stecken in einer "Verzweiflungsfalle" (Staatssekretär Michael Jäger) und "der gegenwärtige Anstieg von 0,2 Grad pro Dekade würde uns weit über das 1,5-Grad-Ziel hinauskatapultieren" (Prof. Dr. Daniela Jacob, Direktorin des Climate Service Center Germany - GERICS).

Die Klimawissenschaftlerin war es auch, die zu Beginn ihres Vortrags (siehe unten) klarstellte, daß es keine physikalischen, chemischen, technischen oder finanziellen Schwierigkeiten gibt, die ein Erreichen des Klimaschutzziels unmöglich machen, aber daß dabei "politische Hürden" eine große Rolle spielen.

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion im zweiten Teil der Konferenz wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, warum die Politik es zugelassen hat, daß einem der größten CO₂-Emittenten Europas, dem Energiekonzern RWE, noch bis zum Jahr 2022 keine nennenswerten Verpflichtungen aus dem Europäischen Emissionshandelssystem zum Einsparen von Treibhausgasemissionen auferlegt sind. Denn das Unternehmen habe sich zu einem Zeitpunkt reichlich mit Emissionszertifikaten eingedeckt, als deren Preis im Keller war.

Das bedeutet, daß mindestens die nächsten vier Jahre von einem großen europäischen Emittenten kein nennenswerter Klimaschutz zu erwarten ist, der durch das wichtigste Klimaschutzinstrument der EU herbeigeführt worden wäre. Das ist um so bedenklicher, als daß laut Jacobs das 1,5-Grad-Ziel bereits ab 2030 erreicht werden könnte. Aus heutiger Sicht stellt es sich so dar, daß RWE folglich nur höchstens acht Jahre Klimaschutz gemäß dem ETS betreiben würde, dann wäre entschieden, ob das 1,5-Grad-Ziel überschritten wird oder nicht. Das ist eine sehr kurze Zeit. Kaum vorstellbar, daß das Unternehmen bis dahin das Ruder herumreißt und eine weitreichende Dekarbonisierung seiner Produktion vornehmen wird und beispielsweise Braunkohle im Boden läßt und Kohlekraftwerke abschaltet.

Dr. Artur Runge-Metzger, Abteilungsleiter in der Generaldirektion Klimapolitik der Europäischen Kommission, erwiderte auf jene Publikumsfrage, daß dies nun mal die freie Marktwirtschaft sei. Immerhin habe RWE Geld auf die Seite legen müssen, auch wenn es vielleicht Zertifikate günstig eingekauft hätte. Man könne nicht von einem Tag auf den anderen den Markt wieder umstülpen und sagen, "weil ihr die Zertifikate billig gekauft habt, dürft ihr sie morgen nicht verwenden".

Kann die Politik tatsächlich nichts dagegen tun, daß die von RWE in Voraussicht kommender Preissteigerungen massenhaft erworbenen Zertifikate ihre Gültigkeit behalten, obgleich doch die Politik jeweils die Bedingungen für neue Handels- bzw. Zuteilungsperioden festlegt und dabei durchaus Eingriffe in das marktwirtschaftliche Geschehen vornimmt? Nichts müßte von einem Tag auf den anderen geschehen, der Markt müßte auch nicht "umgestülpt" werden, wenn man dieses absehbare Schlupfloch rechtzeitig geschlossen hätte. Ausgerechnet "freie Marktwirtschaft" argumentativ ins Feld zu führen, wo doch der Emissionshandel für sich genommen bereits eine beträchtliche Einschränkung der sogenannten freien Marktwirtschaft bedeutet, ist jedenfalls schwer nachvollziehbar.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Hätte man nicht im Rahmen des Europäischen Emissionshandelssystems anläßlich neuer Zuteilungsperioden - beispielsweise geht Phase III von 2013 bis 2020 und Phase IV von 2021 bis 2030 - eine Bestimmung erlassen können, wonach die überzähligen, nicht in Anspruch genommenen Zertifikate für jede Zuteilungsperiode gemäß dem dann gültigen Marktpreis einzutauschen sind? Hätte man auf diese Weise nicht das unternehmerisch sicherlich geschickte Vorgehen von RWE, das unter dem Label "Hedging" läuft, eindämmen können?

Podiumsteilnehmer Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, bekräftigte, daß die steigenden CO₂-Preise die "ohnehin vorgeschriebenen Ausstiegspfade enorm beschleunigen" werden.

Das Beispiel RWE indessen zeigt, wie diese "völlige Logik" (Lösch) gebrochen werden kann. Am 17. Juli 2018 hielt Tom Glover, Chief Commercial Officer CAO von RWE Supply & Trading, bei einem Investoren-Lunch in London einen Vortrag mit dem Titel: "Implicit Fuel Hedge. Understanding the value of RWE's hedging approach". Darin schildert der Manager die Sicherungsstrategien (Hedging) von RWE und nennt als letzten Punkt der "Key messages", also der zentralen Botschaften seines Power-Point-Vortrags: "CO₂ ist bis 2022 finanziell abgesichert: CO₂-getriebene Strompreisänderungen (über die Preisgestaltungsanlage) haben keinen Einfluß auf die Rendite von RWE" [2].

Am 14. August 2018 berichtete die auf Wirtschaftsthemen ausgerichtete Nachrichtenagentur Bloomberg unter der Überschrift "Wie sich der größte Verschmutzer der EU einer Verdreifachung des Kohlenstoffpreises entzog", daß zwar seit Beginn dieses Jahres der Kohlenstoffpreis auf über 18 Euro pro Tonne gestiegen ist, aber daß RWE eigenen Angaben zufolge sich durch den Erwerb von Zertifikaten von fünf bis sechs Euro pro Tonne auf Jahre hinaus abgesichert hat. RWE-Finanzchef Markus Krebber habe im Gespräch mit Investoren und Analysten weitere Gewinne in Aussicht gestellt. RWE habe angefangen, sich über 2022 hinaus abzusichern, sagte Krebber, bat aber um Verständnis, daß man noch keine Einzelheiten zu seiner Position nennen könne "in Anbetracht der empfindlichen Natur dieser Information" [3].

Im RWE-Interimsreport zur ersten Jahreshälfte 2018 wird die Beschaffung von CO₂-Emissionszertifikaten als "wichtiger Kostenfaktor von fossil befeuerten Kraftwerken" bezeichnet und erklärt, daß "nach wie vor viel mehr Emissionszertifikate auf dem Markt (sind), als Unternehmen benötigen, um ihre Kohlendioxidemissionen abzudecken". [4]

Das Reformpaket des EU-Emissionshandels sei noch gar nicht umgesetzt, schreibt RWE, das den Preisanstieg für die CO₂-Emissionszertifikate auf die bloße Ankündigung der EU zurückführt, ab 2019 den Überschuß an Zertifikaten deutlich verringern zu wollen.

Bis jetzt hat der Europäische Emissionshandel nicht bewiesen, daß er ein scharfes Schwert zur Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union ist. Vielmehr hat er gezeigt, daß er dank der von der Politik nicht gestopften Schlupflöcher und der größtenteils kostenlosen Ausgabe von Emissionszertifikaten seit nunmehr dreizehn Jahren als ein Subventionierungsmechanismus für bestimmte Unternehmen bezeichnet werden kann und nicht als ein potentes Klimaschutzinstrument.


RWE-Braunkohletagebau Garzweiler und drei dampfende Kohlekraftwerke am Horizont - Foto: © 2015 by Schattenblick

Verflüchtigter Klimaschutz dank unternehmerischer Schlupflochschläue
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/der-europaeische-emissionshandel

[2] https://www.group.rwe/-/media/RWE/documents/05-investor-relations/veroeffentlichungen-und-praesentationen/Implicit-Fuel-Hedge-PDF.pdf?la=en

[3] https://www.bloomberg.com/news/articles/2018-08-14/how-europe-s-biggest-polluter-escaped-a-tripling-of-carbon-price

[4] http://www.rwe.com/web/cms/mediablob/en/3920196/data/105818/5/rwe/investor-relations/RWE-interim-report-H1-2018.pdf


Bisher im Schattenblick zur Konferenz "Jedes Zehntelgrad zählt" am 23. Oktober 2018 in Berlin im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/146: Klimawandel - Schaden genug ... (SB)
INTERVIEW/285: Klimawandel - entfesselte Gefährlichkeit ...    Dr. Werner Würtele im Gespräch (SB)


30. Oktober 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang