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INTERVIEW/062: Fukushima ... irgendwo, mit Elke Leuschner im Gespräch (SB)


Interview mit Elke Leuschner von der Anti-Akw-Gruppe Heide am 7. November im Bürgerhaus Heide



11. März 2011: Im Pazifischen Ozean vor der nordostjapanischen Küste ereignet sich ein Erdbeben der Stärke 9,0. Durch die schweren Erschütterungen fallen im Akw Fukushima Daiichi wichtige Kühlfunktionen aus. Kurz darauf trifft ein Tsunami auf die Küste und überspült den Komplex mit seinen sechs Meilern, Abklingbecken und zahlreichen weiteren Einrichtungen der nuklearen Energieproduktion. In drei Meilern ereignen sich Kernschmelzen, es kommt zu einer Serie von Explosionen sowie einem Brand im Abklingbecken des zerstörten Reaktorblocks 4. Kräftige Winde treiben eine radioaktive Wolke übers Land; selbst in der 35 Millionen Einwohner zählenden Stadt Tokio werden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Besonders schwer trifft es die unmittelbare Umgebung des Akw, zudem einen Streifen, der von dort aus auf die rund 60 Kilometer entfernt liegende Präfekturhauptstadt Fukushima ragt, und den Pazifischen Ozean, der den Hauptanteil der Strahlenpartikel aufnimmt.

Hatten Experten einst den Standpunkt vertreten, daß ein GAU - größter anzunehmender Unfall - vermutlich nur einmal in rund einer Million Jahre auftritt, ist es in Fukushima zeitgleich zu mindestens drei Ereignissen dieser Art gekommen und das nur 27 Jahre, nachdem im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein Meiler explodiert ist und sich radioaktiver Fallout über weite Teile Europas gelegt hat. Nimmt man noch die partielle Kernschmelze im US-amerikanischen Akw Harrisburg von 1979 sowie das Feuer im britischen Akw Windscale 1957 (beides Stufe 5 auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse - INES), so kommt man im Schnitt auf unter 20 Jahre, in denen sich ein Nuklearunfall mit massiver Freisetzung von Radionukliden ereignet.

Japan hat bereits den Zuschlag als Veranstalter für die Olympischen Spiele 2020 erhalten, die Fukushima-Katastrophe ist allerdings noch längst nicht bewältigt. Tagtäglich fließen schätzungsweise 300.000 Liter radioaktiv verstrahltes Wasser in den Pazifischen Ozean. Mehr noch: Womöglich werden zukünftige Generationen das, was aus heutiger Sicht bereits als die schwerwiegendste Katastrophe der zivilen Atomenergienutzung angesehen wird, noch als vergleichsweise harmloses Vorgeplänkel gegenüber dem bezeichnen, was unmittelbar bevorstehen könnte: Der Akw-Betreiber Tepco hat begonnen, die teils heißen Brennstäbe aus einem 30 Meter über dem Boden lagernden, vermutlich nur unzuverlässig abgestützten Abklingbecken des weitgehend zerstörten Reaktors 4 zu bergen. Nach Einschätzung von Fachleuten könnte ein kleiner Fehler zu einer Nuklearkatastrophe auswachsen, von der die ganze Nordhalbkugel aufs schwerste betroffen wäre.

Unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan hat die Anti-Akw-Gruppe Heide den Fotojournalisten Alexander Neureuter, der im Frühjahr dieses Jahres durch die Präfektur Fukushima gereist war, zu einem Vortrag in das Bürgerhaus Heide eingeladen. [1] Im Anschluß an die Veranstaltung stellte sich Elke Leuschner von der Anti-Atomkraft-Gruppe Heide, die an diesem Abend die Moderation übernahm, dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Porträt der Moderatorin - Foto: © 2013 by Schattenblick

Elke Leuschner
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Könnten Sie uns Ihre Gruppe einmal vorstellen?

Elke Leuschner (EL): Wir nennen uns Anti-Akw-Gruppe Heide, Dithmarschen, und halten seit Beginn der Katastrophe in Fukushima Mahnwachen ab. Wir treffen uns einmal im Monat am Heider Markt und geben Informationen über das, was uns gerade wichtig erscheint.

SB: Wie werden sie von den Menschen aufgenommen?

EL: Ich habe das Gefühl, die Regelmäßigkeit hat sich bewährt. Es gibt Leute, die das zunehmend wichtiger finden und sich auch trauen, zu kommen und Fragen zu stellen. Natürlich geschieht es hin und wieder, daß Menschen es für unangemessen halten, wenn wir auf etwas aufmerksam machen. Aber viele finden es wichtig, daß es einen Ort gibt, an dem sie sich informieren können.

SB: Gelingt es Ihnen, von Beginn des Unglücks im Akw Fukushima Daiichi an die Mahnwachen aufrechtzuerhalten?

EL: Ja.

SB: Wie viele Personen engagieren sich in der Initiative?

EL: Ungefähr 15. Das ist eine schöne Gruppe, so daß wir, auch wenn mal der oder die eine oder andere nicht kommen kann, trotzdem immer weiter gut funktionieren.

SB: Die Bundesregierung hat den Atomausstieg beschlossen. Was meinen Sie, hat sich damit die Anti-Atom-Bewegung zumindest in Deutschland erübrigt?

EL: Ganz im Gegenteil. Es gibt ein sehr schönes Plakat von der Organisation ".ausgestrahlt", auf dem steht: "Es gibt noch viel zu tun." Es sind sechs Reaktoren abgestellt, aber neun große Anlagen sind noch in Betrieb, und im Augenblick wird ja eher gegen die Durchführung der Energiewende gesteuert. Und deshalb auch die Mahnwache, wo wirklich deutlich gemacht wird: Das lassen wir nicht zu.

SB: Der Atomausstieg wurde schon einmal unter Angela Merkel zurückgenommen. Glauben Sie, daß das noch einmal passieren könnte oder ist für Deutschland der Atom-Zug endgültig abgefahren?

EL: Das kann ich nicht sagen.

SB: Läßt sich das schwer vorhersagen?

EL: Nach der Wendefähigkeit der Regierungschefin zu urteilen, denke ich: je nach dem, was gerade opportun erscheint. Es hängt also an uns, daß wir wirklich sagen, wir wollen es nicht. Von der Regierung erwarte ich nicht, daß sie die Bevölkerung offensiv vor dieser Bedrohung schützen will.

SB: Wie stehen Sie zu bestimmten Formen des Anti-Akw-Aktivismus, bei dem sich Leute beispielsweise an Gleise ketten, um einen Castor-Transport aufzuhalten. Können Sie nachvollziehen, daß Menschen so weit gehen und sich dabei in Gefahr bringen?

EL: Ja, wir waren auch als Gruppe nach Gorleben gefahren. Da gab es eine Aktion, die "365 Tage" hieß. Ich fand es auch für unsere Gruppe sehr schön, daß wir einfach zusammen solche Aktionen machen, wie zusammen zu Demonstrationen zu gehen und am Widerstand, regional und auch überregional, teilzunehmen.

SB: Von der Anti-Braunkohlebewegung gibt es aktive Bestrebungen, sich mit der breiter aufgestellten Anti-Atom-Bewegung zusammenzuschließen. Besteht ein solches Interesse umgekehrt auch von Ihrer Seite oder sagen Sie sich, wir beschränken uns im wesentlichen erstmal auf die Atomenergie?

EL: Ja, ich denke, daß eine Kooperation auf jeden Fall sinnvoll ist.

SB: Welche aktuellen Projekte haben Sie laufen?

EL: Diese Veranstaltung war gerade unser letztes Projekt.

SB: Wie sind Sie darauf gekommen, das zu machen?

EL: Im letzten Jahr hatten wir Herrn Neureuter nach Meldorf eingeladen und da hatte er uns schon angekündigt, daß er nach Fukushima fahren würde. Daraus hat sich das ergeben.

SB: Hier in der Nähe liegt das Akw Brokdorf. Setzen Sie sich auch für dessen Stillegung ein?

EL: Ja, das ist vor unserer Haustür. Was ich aber immer haarsträubend finde, daß hier am Standort des inzwischen stillgelegten Akw Brunsbüttel gekämpft worden ist, ganz besonders von einer Frau - natürlich mit der Gruppe hinter ihr -, der Anke Dreckmann. Sie hat nachgewiesen, daß das atomare Zwischenlager in Brunsbüttel illegal ist. Durch Instanzen und Instanzen und Instanzen, über Jahre hinweg. Nun hat sie gewonnen und es ist, als ob in Kanada ein Spaten umfällt: Es passiert nichts. Es hat keine Konsequenzen, das Zwischenlager wird weiterbetrieben. Das finde ich ungeheuerlich.

Wir sind die ganze Zeit natürlich immer mit dem Akw Brunsbüttel und mit dem Akw Brokdorf beschäftigt, das sind unsere nächsten Bezugspunkte. Und wir weisen auch immer wieder auf die Evakuierungspläne hier in Dithmarschen hin. Die sind nämlich ganz speziell, weil wir hier wie auf einer Insel leben. Die Brücken sind sprengbar, und dann wäre der ganze kontaminierte Bereich wie ein Gefängnis.

SB: Dithmarschen wäre also im Ernstfall leicht abzuschotten.

EL: Ja. Sie können im Polizeirevier von Heide genau schauen, wie die Sperrzonen verlaufen.

SB: Sie haben also konkrete Anhaltspunkte dafür, daß solche Pläne existieren?

EL: Ja, die gibt es. Und es wird auch von den Feuerwehrleuten, die immer für den Ernstfall üben müssen, ganz klar bestätigt, daß dann gescreent würde. Wie man das in den Fukushima-Bildern sehen kann. Im Falle einer Verstrahlung wird entschieden: die lohnt sich noch oder die lohnt sich nicht mehr. Das lernen die Leute. Mit all solchen Dingen sind wir sehr beschäftigt und informieren, was hier zu erwarten ist, womit wir permanent leben.

SB: In dem Vortrag von Herrn Neureuter wurde viel Kritisches über die japanische Regierung und ihre Verflechtung mit der Wirtschaft berichtet. Würden Sie sagen, daß sich die Verhältnisse hier in Deutschland gar nicht so sehr von denen in Japan unterscheiden?

EL: Ja, das ist ganz genau dasselbe. Das hat Herr Neureuter deutlich gemacht. Das läuft beispielsweise über so "wunderbare" Werbefilme zu Gorleben, Gatow, aber auch Brokdorf. Genau so läuft das.

SB: Frau Leuschner, vielen Dank für das Gespräch.

Menschenmassen mit zahlreichen Anti-Akw-Fahnen vor dem Akw Brunsbüttel - Foto: Frank Schwichtenberg, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Akw Brunsbüttel - abgeschaltet, aber nicht abgebaut. Potentielle Strahlengefahr durch Zwischenlager. Anti-Akw-Demonstration am 25. April 2011
Foto: Frank Schwichtenberg, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Fußnoten:

Einen Bericht zum Fotovortrag "Fukushima 360 Grad" von Alexander Neureuter im Bürgerhaus Heide am 7. November 2013 finden Sie unter:

Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT
BERICHT/059: Fukushima - Vergebliche Mühe (SB)

Ein Interview mit Alexander Neureuter finden Sie unter:
Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW
INTERVIEW/060: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 1. Teil (SB)
INTERVIEW/061: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 2. Teil (SB)

Eine Auswahl an Beispielen für die Berichterstattung des Schattenblick zum Thema Fukushima:

Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → BRENNPUNKT → GEFAHR
GEFAHR/001: Brandsatz Fukushima - Nicht gestellte Fragen (SB)
GEFAHR/002: Brandsatz Fukushima - Steter Tropfen (SB)

Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION → ATOM
ATOM/394: Anpassung an Fukushima-GAU - höhere Strahlengrenzwerte für Kinder (SB)
ATOM/399: Fukushima-GAU - Weitere Hot spots werden evakuiert (SB)
ATOM/402: Meßgerät-Skala reichte nicht - Extrem hohe Strahlenwerte am Akw Fukushima Daiichi (SB)
ATOM/411: Fukushima Daiichi - Fabrikarbeit geht innerhalb der Evakuierungszone weiter (SB)
ATOM/424: Das Wunder von Fukushima - Wasserdampf ohne Hitze? (SB)
ATOM/425: WHO-Studie widerlegt - Doch Häufung von Schilddrüsenkrebs in Fukushima (SB)

Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION → INTERVIEW
INTERVIEW/002: Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, zu Fukushima (SB)
INTERVIEW/003: Wataru Iwata, Mitglied der Bürgerinitiative CRMS in Fukushima (SB)

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BERICHT/013: IPPNW hinterfragt Tsunami-Legende - Erdbeben löste Fukushima-GAU aus (SB)

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INTERVIEW/011: Henrik Paulitz, Atomexperte der IPPNW, zur Tsunami-Legende des Fukushima-GAU (SB)
INTERVIEW/013: Dr. Angelika Claußen zu den medizinischen Folgen des Fukushima-GAU (SB)

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18. November 2013