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INTERVIEW/214: Profit aus Zerstörungskraft - den Finger in der Wunde ...    Dr. Ian Fairlie im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Ian Fairlie über direkte und indirekte Wege, auf denen Radioaktivität unsere Gesundheit schädigt, den leichtfertigen Umgang damit in der Medizin, naheliegende Zusammenhänge, die nie erforscht werden und wie all das mit dem unerschütterlichen und völlig verrückten Glauben an die Beherrschbarkeit nuklearer Kräfte zusammenhängt, den viele Politiker und Wissenschaftler in Britannien und den Vereinigten Staaten teilen


30 Jahre danach gehört die Tschernobyl-Katastrophe, die mit einer gewaltigen Explosion des Reaktors 4 am 26. April 1986 ihren Anfang nahm, offiziell der Geschichte an. Seit mehr als 10 Jahren gibt es keine neuen Informationen mehr, wie weit die radioaktive Verseuchung fortgeschritten oder unter Kontrolle ist, obwohl bis heute Menschen unter ihren Folgen leiden.

Die Ärzte, die seither mit mehr Krebsfällen oder auch mit anderen ungewöhnlichen, sogenannten kongenialien, d.h. angeborenen Erkrankungen in Belarus zu tun haben, erklären, sie würden schon lange in der Anamnese nicht mehr fragen, wo denn die Eltern waren, als der Reaktor in die Luft flog, oder wo ihre Patienten groß geworden sind. Viel Leid hätte verhindert werden können, heißt es unter anderem im jüngsten IPPNW-Report [1], wenn über die Menge des freigesetzten radioaktiven Inventars und über seine Folgen größere Aufklärung geherrscht hätte. "Weil die gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen unterschätzt und heruntergespielt wurden, kamen effektive Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu spät oder unterblieben ganz." Damit wird vielleicht unbeabsichtigt von den Autoren nahegelegt, daß es möglicherweise einen besseren und sachgemäßeren Umgang mit der Katastrophe und dem freigesetzten radioaktiven Material hätte geben können. Tatsächlich begründet sich die Sprachlosigkeit der Ärzte angesichts offensichtlicher Zusammenhänge aber auch darin, daß sich mit jeder Erkenntnis über die Folgen ionisierender Strahlung eine sich geradezu exponentiell ansteigende Menge an ungeklärten Fragen ergibt, die weitere schwerwiegende Folgen der radioaktiven Stoffe nahelegen. Da es bei Substanzen, die es nie zuvor in der Natur gegeben hat, ehe sie erstmals durch die vom Menschen eingeleitete Kernspaltung bei Atombombenversuchen oder durch Kernkraftexperimente in die Umwelt geraten sind, keine Naturbeobachtungen oder Erfahrungen geben kann, steht das Erforschen der Wirkungen und Wechselwirkungen mit ihrer Umwelt, sprich die Auswirkungen von strahlenden Stoffen wie Strontium-90, Cäsium-137, Plutonium-239 oder Jod-131 auf andere Stoffe, Pflanzen und Lebewesen noch immer ganz am Beginn, selbst 30 Jahre danach.

Einer, der immer schon Hinweise dafür gesammelt hat, daß bereits die gesundheitlichen Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe dramatischer sein müssen, als sie ursprünglich angenommen wurden, ist der britische Chemiker und Strahlenbiologe Dr. Ian Fairlie. Anläßlich des 30. Jahrestages der Ereignisse beauftragte ihn Global 2000 gemeinsam mit der Wiener Umweltanwaltschaft, eine Aktualisierung seiner von Atomkraftbefürwortern oft kritisierten Studie "The other report on Chernobyl" (TORCH) zu den gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe vorzunehmen, insbesondere aber ein Update zu den Auswirkungen für Österreich zu erstellen. Wie schon der erste, "andere Bericht über Tschernobyl", den die Grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms veranlaßt hatte, zeigen auch die Ergebnisse der am 7. März in Wien veröffentlichten Neuauflage, daß Tschernobyl alles andere als Geschichte ist und auch 30 Jahre nach der Verseuchung die zerstörerischen Auswirkungen der zivilen Nutzung von Atomkraft immer noch nachweisbar sind.

Zum Zeitpunkt der Konferenz war die Studie noch nicht ganz komplett. Dr. Fairlie gab den Teilnehmern des Forum 1 "30 Jahre Leben mit Tschernobyl - Eine Bilanz der gesundheitlichen und ökologischen Schäden" eine Sneak-Preview der hauptsächlichen Schwerpunkte, Erkenntnisse und Schlußfolgerungen der erneuten Untersuchung des Tschernobyl-Super-GAUs und bestätigte in vielen Punkten den letzten TORCH-Bericht:

So bleibt er bei der Schlußfolgerung, daß in Summe mindestens 40.000 Todesfälle weltweit durch die Reaktorkatastrophe zu beklagen sein werden, was wesentlich mehr ist, als bisherige Einschätzungen der IAEO, UNSCEAR oder des Tschernobyl-Forums ergeben haben. Auch andere Prognosen über die Freisetzung der Radioaktivität in die Umwelt und die davon zu erwartenden Gesundheitsschäden und potentiellen Opfer übertrifft der TORCH-Bericht um mindestens eine Größenordnung. Die markanteste Entwicklung findet sich hier in der weltweiten Zunahme von Schilddrüsenkrebspatienten. Während UNSCEAR offiziell 6.000 Fälle zugibt und 16.000 weitere Fälle noch erwartet werden, sieht TORCH allein für diese Erkrankung weitere 21.000 Krebsfälle voraus.

Nach Weißrußland war Österreich mit 13 Prozent seiner Gesamtfläche weltweit am zweitstärksten von der hohen Cäsium-Belastung der Tschernobyl-Katastrophe betroffen. Auch radioaktives Jod-131, wie eine nachträgliche, simulierende Modellierung aus Wetterdaten, Windströmungen und Stoffdaten nahelegt, muß Österreich und vor allem Wien stark getroffen haben. Letzteres akkumuliert bekanntlich in der Schilddrüse. Über die Menge des tatsächlich entwichenen, radioaktiven Inventars (190.000 kg hochradioaktives Material befand sich zum Zeitpunkt der Explosion im Reaktor) und somit der genauen Emissionsmenge konnten allerdings bis heute keine genauen Zahlen ermittelt werden. Die Schätzungen von 12 Trillionen Becquerel (12 x 1018 Bq bzw. 12.000 Peta-Bq) an radioaktiven Partikeln, die durch Explosion und Feuer binnen weniger Tage in die Atmosphäre freigesetzt und um die Welt verteilt wurden - 200mal so viel wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen - könnten also ebenso nach oben wie nach unten offen sein.

Belarus (Weißrußland), die Ukraine und Rußland sind jene Länder, die davon am stärksten kontaminiert wurden und immer noch als stark verseucht gelten müssen. Über fünf Millionen Menschen leben heute noch in Gebieten mit hoher Radioaktivität. 400 Millionen Menschen bewohnen Gegenden mit einer hohen Cäsium-Bodenbelastung, die etwa 42 Prozent der europäischen Landfläche ausmachen. Auf Westeuropa (Europa ohne Weißrußland), Ukraine und Rußland entfielen 37 Prozent des gesamten Tschernobyl-Fallouts von radioaktiven Stoffen und 40 Prozent der radioaktiven Strahlenbelastung.

Selbst der weltweite Anstieg von Schilddrüsenkrebsfällen nach 1990, vor allem auch in Österreich, könnte abzüglich anderer Einflüsse (wie Screening Effekte, Nukleardiagnostik und andere Strahlenbelastungen) zu 8 bis 40 Prozent auf die Ereignisse von Tschernobyl zurückgehen. Verglichen mit Basisdaten kommt der Bericht hier in Weißrußland auf einen Anstieg von unwissenschaftlichen "700 Prozent" für das quantitative Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Weniger drastisch, aber die gleiche Tendenz wird allerdings auch für Österreich, Tschechien, Polen, England, Frankreich oder die Slowakei gesehen.

Aufgenommen wurden zudem die Erkenntnisse neuer Studien, die zuverlässige Daten zur erhöhten Inzidenz von Leukämien, Tumoren, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Leiden, Fehlbildungen bei Neugeborenen und andere Strahleneffekte in den am stärksten betroffenen Ländern liefern. Die tägliche Strahlung in hochbelasteten Gebieten wirkt sich ebenso wie der Verzehr von kontaminierter Nahrung, selbst von nicht tödlichen oder krebsverursachenden Dosen, bereits auf die allgemeine Befindlichkeit und den dauerhaft verschlechterten Gesundheitszustand vor allem bei Kindern aus, der bislang nur durch die deutliche Verbesserung nach einem Ferienaufenthalt im Ausland für die "Kinder von Tschernobyl" nachgewiesen werden kann. Hier besteht noch sehr viel aktueller Forschungsbedarf, worüber sich die teilnehmenden Ärzte und Wissenschaftler des Forum 1 auf dem IPPNW-Kongreß einig waren.

Der britische Chemiker und Strahlenbiologe Dr. Ian Fairlie gehört zu den bekanntesten, unabhängigen, wissenschaftlichen Beratern für das IPPNW, sowie für Umweltorganisationen, das Europäische Parlament und für lokale und nationale Behörden in verschiedenen europäischen Ländern. Im Verlauf des Kongreßprogamms war er bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


Dr. Ian Fairlie während des Vortrags - Foto: 2016 by IPPNW freigegeben via flickr als CC-BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/]

"Momentan explodieren die Statistiken an Schilddrüsenkrebserkrankungen." Dr. Ian Fairlie
Foto: 2016 by IPPNW freigegeben via flickr als CC-BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/]

Schattenblick (SB): In Ihrem Sneak Preview-Vortrag zum neuesten Update der TORCH-Studie 2016, den Sie im Forum 1 "30 Jahre Leben mit Tschernobyl - Eine Bilanz der gesundheitlichen und ökologischen Schäden" hielten, zeigten Sie als eine mögliche Folge des Reaktorunglücks eine Grafik, in der die Schilddrüsenkrebsfälle in allen untersuchten Bevölkerungsgruppen (Männer und Frauen, Stadt oder Landbewohner) gleichermaßen exponentiell ansteigen. Im vergangenen Jahr wurde dieses Phänomen von einigen Medien und vom BDN (Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner e.V.) aufgegriffen und analog zu dem vieldiskutierten Screening Effekt bei der Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei japanischen Kindern auf eine verbesserte Diagnostik [2] zurückgeführt. Könnte die Erklärung, daß möglicherweise durch die Verfahren noch mehr Fälle erkannt und behandelt werden, die aber möglicherweise nie ausbrechen würden und somit auch nicht operiert werden müßten, Ihre eigenen Schlußfolgerungen noch revidieren?

Ian Fairlie (IF): Nein, ich glaube nicht. Es gibt tatsächlich im Augenblick eine große wissenschaftliche Debatte darüber, was die Ursachen für den weltweit starken Anstieg von Schilddrüsenkarzinomen sind. Beispielsweise explodieren die Raten in Ländern, in denen auch früher schon recht hohe Schilddrüsenkrebsraten festgestellt wurden, heute regelrecht. Wir sind uns als Wissenschaftler noch nicht ganz sicher, woran das liegen könnte. Und wenigstens einige dieser zusätzlichen Krebsfälle haben möglicherweise auch etwas mit der Medizin zu tun.

Professor Wolfgang Hoffmann warnte beispielsweise in seinem Vortrag [3], man sollte klinische Richtlinien für den Gebrauch von Radionukliden oder nuklearmedizinische Diagnoseverfahren festlegen, wie etwa für die Nutzung von Computer Tomographen (CT), die einen geradezu inflationären Gebrauch nach sich gezogen haben. In den Vereinigten Staaten werden sogar CTs [4] gemacht, wenn jemand erkältet ist oder eine Grippe hat. Auch wenn man einen neuen Job antritt, wird heute von der Versicherung ein CT verlangt, wo früher eine Röntgenaufnahme genügte. Der Unterschied ist nur: Bei einer Röntgenaufnahme wird der Körper 0,4 Milligray ausgesetzt, beim CT sind es 25 Milligray [5]. Das Problem ist in Europa nicht so gravierend. Hier geht man sehr viel weniger leichtfertig mit solchen Verfahren um. In den Vereinigten Staaten scheint man dagegen den Trend zu strahlenintensiven, diagnostischen, aber auch sehr genauen Verfahren einfach nicht stoppen zu können. Natürlich sind die Genauigkeit und die Anwendungsmöglichkeiten dieser Verfahren unübertroffen und einfach großartig. Dreidimensionale Bilder in Farbe können einem einfach alles zeigen, was man sucht und wissen will und manchmal auch noch sehr viel mehr als das. Aber die Patienten zahlen dafür einen hohen Preis, darüber sollte man sich klar sein. Ich würde sehr dafür plädieren, daß zumindest Kinderärzte jeweils ganz genau überlegen, ob ein computertomographisches Diagnoseverfahren wirklich notwendig ist, ehe sie ein Kind diesen gewaltigen Mengen an radioaktiver Strahlung aussetzen.

SB: Im Vortrag von Frau Liudmila Marushkevich wurde besonders auf die Zunahme der Kinderdiabetesfälle in Belarus eingegangen. In Ihrem Kurzeinblick in die neue Torch 2016-Studie, haben Sie zwar nicht von Diabetes gesprochen, legen dafür aber einen insgesamt zunehmend verschlechterten Gesundheitszustand von allen Menschen, die im Einzugsbereich der Fallout-Wolke gewohnt haben in Ihrer Studie nahe. Halten Sie eine Korrelation von Diabetes und Strahlungseinwirkungen durch die von Tschernobyl verbreiteten Radionuklide für möglich?

IF: Anhaltspunkte dafür, daß hier ein Zusammenhang besteht, gibt es schon, seit man Überlebende der Hiroshimabombe untersucht hat. Auch bei den Liquidatoren, wie man sie früher nannte - dann wurden sie eine Zeitlang Aufräumarbeiter genannt und inzwischen, warum, weiß ich nicht, nennt man sie Recovery-Workers (Wiederaufbau-Arbeiter) -, wurde beispielsweise eine erhöhte Insulinproduktion und andere endokrine Störungen festgestellt. Darüber hinaus gibt es noch einige vereinzelte Studien, in denen diese Problematik zumindest erwähnt wird. Aber die Zusammenhänge wurden nie genauer erforscht. Die letzten Untersuchungen zu vermehrten Fällen von Kinderdiabetes stammen aus dem Jahr 2004.

SB: Sie erwähnten auch eine möglicherweise unterschätze Größe, das heißt, die bisher nicht untersuchte Verbreitung von radioaktivem Jod-131 in Europa und die möglichen Folgeschäden, die daraus entstanden sind. Momentan wird sehr viel über Niedrigdoseneffekte diskutiert, die sich in sogenannten Nichtkrebs-Erkrankungen manifestieren sollen. Kann man die radioaktive Schädigung der Schilddrüse vielleicht als eine Art Auslöser für weitere Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf, zunehmende Schlaganfälle und allgemein verschlechterte Gesundheitszustände sehen?

IF: Ja, die Schilddrüse ist ein Teil des endokrinen- bzw. Hormonsystems und steht mit den anderen Teilen dieses Systems wie etwa der Bauchspeicheldrüse in enger Verbindung. Das Ganze ist ein sehr großes und ausgeklügeltes System, das sich aus vielen Faktoren zusammensetzt, die sich gegenseitig beeinflussen können. Daß sich Störungen im Hormonhaushalt der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse gegenseitig beeinflussen, hat man lange unterschätzt. Aber die Schilddrüse steht auch in enger Beziehung zu vielen anderen Körperfunktionen, wie etwa dem Lymphsystem, das heißt, den Lymphknoten, Thymus, Milz, Mandeln, auch mit dem Immunsystem und den blutbildenden Organen, das heißt dem roten Knochenmark. Auf all diese Körperfunktionen kann sich eine Störung der Schilddrüse auswirken.

Das ist etwas ganz anderes als bei Leukämie. Das ist eine bösartige Erkrankung des Blutzellen bildenden Systems. Es betrifft vor allem das Knochenmark. Infolge einer durch Strahlungseinwirkung verursachten Mutation wird dort die Bildung der Blutkörperchen gestört, was eine unkontrollierte Erhöhung der weißen Blutkörperchen zur Folge hat. In den meisten Fällen reifen diese auch nicht mehr zu funktionstüchtigen Zellen aus. Sie können dann ihre natürlichen Aufgaben im Abwehrsystem des Körpers nicht mehr übernehmen. Das ist also tatsächlich ein bißchen anders, obwohl auch hier eine gewisse Verbindung zu den Vorgängen in der Schilddrüse gesehen werden muß.


Frau mit großem Kropf - Foto: Martin Finborud, gemeinfrei

Schilddrüsenerkrankungen im fortgeschrittenen Stadium haben einen direkten oder indirekten Einfluß auf sämtliche Körperfunktionen.
Foto: Martin Finborud, gemeinfrei

SB: Es wird viel darüber spekuliert, welche der beiden Reaktorkatastrophen, Fukushima oder Tschernobyl, bezüglich der Folgen die schwerwiegendere ist. Wie schätzen Sie das ein?

IA: Die Katastrophe von Tschernobyl ist definitiv verglichen mit Fukushima mindestens zehnmal folgenschwerer. In einigen Aspekten ist sie sogar 50mal so schwer wie das, was in Fukushima passiert ist, das kommt auf den eigenen Standpunkt an und welchen Aspekt der Folgen Sie gerade betrachten.

SB: Ein anderes Thema heute, von dem Prof. Hoffmann heute sprach, sind die Leukämiecluster, das heißt, eine Häufung von Blutkrebsfällen von Kindern im Einzugsbereich von nuklearen Anlagen. Hierzulande sind Fälle aus der Elbmarsch und in Geesthacht bekannt. Gibt es auch Studien über ähnliche Erscheinungen in Großbritannien?

IF: Oh ja, die gibt es. Genau genommen hat die eigentliche Forschung dazu in England begonnen. Mitte der 1980er Jahre wurde anläßlich von einigen Vorfällen um Sellafield erstmals der Verdacht geäußert. [6] Die britische Regierung initiierte daraufhin zunächst die Bildung eines Untersuchungsausschusses, der später in die sogenannte COMARE Gruppe (Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment) überging, ein Expertengremium des Britischen Gesundheitsministeriums. Dieses Gremium hat die Vorfälle ganz genau untersucht und stellte dann fest, daß es tatsächlich einen Anstieg von Leukämiefällen bei Kindern in der Nähe britischer Nuklearkraftwerke gibt.

SB: Warum hatte das kaum Resonanz in der Öffentlichkeit? Warum hat dies die Menschen nicht auf die Barrikaden gebracht?

IF: Das ist eine einfache Frage, die allerdings nicht einfach zu beantworten ist. Ehrlich gesagt glauben die Menschen in Großbritannien gewöhnlich, daß Atomkraft eine wunderbare Sache ist. Ich weiß nicht, warum das so ist. Es ist sehr dumm. Und vielleicht kann man das auch nicht pauschal für alle sagen. Doch die Befürworter der Kernenergie sind tatsächlich in der Überzahl. Fünfzig Prozent der britischen Bevölkerung sind für Kernkraftwerke und nur etwa dreißig Prozent sind dagegen.

SB: Derzeit sind in Großbritannien sechs neue Kernkraftwerksanlagen im Gespräch, die die Regierung bauen möchte. Sie sagten, dreißig Prozent sind dagegen, wie stark ist denn der aktive Widerstand, der sich gegen den Bau dieser Anlagen wehrt?

IF: Es gibt einige Bürgerinitiativen, die dagegen protestieren. Aber man kann das nicht mit der Antiatomkraftwerkbewegung in Deutschland vergleichen. Hierzulande würden sie eine Viertelmillionen Menschen auf die Straßen bringen. In Britannien sind es bestenfalls zweihundert, die protestieren. Zu einer atomkritischen Konferenz wie dieser hier würden in Großbritannien etwa nur eine Handvoll ausgesuchter Leute kommen.

SB: Wären die nachgewiesenen Leukämiecluster, also eine konkrete Bedrohung, nicht Argumente genug gegen den Bau solcher Anlagen und damit für eine Änderung der bisherigen Stellungnahme in der Bevölkerung?

IF: Doch natürlich. Denn es ist nun mal eine Tatsache, daß diese Anlagen radioaktive Strahlung emittieren. aber auch radioaktive Isotope, die beispielsweise wenn sie von schwangeren Frauen durch Nahrung oder Wasser aufgenommen werden, in das Fruchtwasser ihres Uterus gelangen und sogar den Embryo schädigen.


Adenom einer Schweißdrüse - Foto: By Klaus D. Peter, Gummersbach, Germany (Own work) [CC BY 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Eine Folge von ionisierender Strahlung ist die Zunahme unterschiedlichster gutartiger oder bösartiger Tumore.
Foto: By Klaus D. Peter, Gummersbach, Germany (Own work) [CC BY 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

SB: Wie stellt sich die Fraktion der Wissenschaftler in Ihrem Land zur Nutzung der Atomkraft? Gibt es einen aktuellen Diskurs zu diesem Thema und welche Fragen, Problematiken und Lösungen werden kontrovers diskutiert?

IF: In Großbritannien - ist das Ihr Ernst? Nein, ziemlich alle Wissenschaftler in Großbritannien sind für die Nutzung der Atomkraft. Es ist in etwa genauso, wie das bei Ihnen in Deutschland vor der Energiewende gewesen ist. Es ist keine Frage der Wissenschaft, sondern der Politik. Auch in Deutschland waren es letztlich die Politiker, die das Ruder umgelegt und im März 2011 - kurz nach dem Beginn der Nuklearkatastrophe von Fukushima - einen deutlichen Wechsel ihrer Atompolitik bzw. Energiepolitik beschlossen haben. Und es waren weniger die rot-grüne Bundesregierung, die bereits in den 1980er Jahren in ihrem Koalitionsvertrag den Atomausstieg schon vereinbart hatte, als die Christdemokraten unter Angela Merkel, die schließlich nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima Nägel mit Köpfen machten und die Schließung von acht Kernkraftwerken angeordnet haben. Auch wenn es 2010 durch die vom Kabinett Merkel beschlossene Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke zunächst noch aussah, als habe sich die Umsetzung der Energiewende in die ungewisse Zukunft verschoben, und auch wenn man vieles an Angela Merkels Politik kritisieren könnte, ihre Energiepolitik ist richtig gut. Vermutlich liegt es daran, daß sie zu jenen Politikern gehört, die sich mit Atomphysik auskennen, die sich dann der Herausforderung auch stellen. Angela Merkel war ja Teilchenphysikerin, der ehemalige Premierminister von Japan, Naoto Kan, war ein Atomphysiker, beide haben sich inzwischen gegen die Nutzung von Kernenergie ausgesprochen.

SB: Was halten Sie als Chemiker von der in "Spektrum der Wissenschaft" unlängst diskutierten Idee, abgereichertes Uran oder andere Formen von Atommüll noch als Katalysator, also bestimmte chemische Reaktionen befördernde Substanzen, in der chemischen Industrie einzusetzen, beispielsweise bei der großtechnischen Gewinnung von Wasserstoff?

IF: Nein, das halte ich für total verrückt. Natürlich wächst der Berg an abgereichertem Uran und anderen Atomabfällen derart an, daß man verständlicherweise verzweifelt nach irgendwelchen Lösungen sucht, um das Zeug zu verbrauchen. Aber diese Nutzungsmöglichkeit wäre ein Hirngespinst, verstehen Sie, was ich meine? Es wird nie geschehen, denn dieses Material ist zum Beispiel wegen eines möglichen Mißbrauchs viel zu gefährlich. Abgereichertes, aber immer noch radioaktives Uran, also auch waffenfähiges Material, würde damit unkontrolliert in den Umlauf gebracht werden und in falsche Hände geraten. Solche Vorhaben wird keine Regierung genehmigen.

SB: Vielen Dank, Herr Dr. Fairlie.


Anmerkungen:

[1] Zum IPPNW-Kongreß 2016 "30 Jahre Leben mit Tschernobyl - 5 Jahre Leben mit Fukushima, - Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima" kam im Februar unter dem gleichen Titel auch eine ausführliche Studie heraus:
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/IPPNW_Report_T30_F5_Folgen_web.pdf

[2] Anders als bei den vermehrten Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Fukushima, deren Korrelation zum Reaktorunglück zumindest in Japan häufig als Screening Effekt (mehr Funde durch flächendeckende Diagnose vieler Probanden) abgewertet wird, gibt es auch durch die Anwendung immer verfeinerterer Diagnoseverfahren die Gefahr, mehr zu entdecken, als vielleicht notwendig wäre.

http://www.bdn-online.de/index.php?id=118&tx_ttnews%5Btt_news%5D=325&cHash=d39556ee32ee10e429deba60c9d69bf2

http://www.gesundheitsstadt-berlin.de/raetselhafter-anstieg-von-schilddruesenkrebs-bei-jungen-frauen-6693/

[3] Am 27. Februar hielt Prof. Dr. Wolfgang Hoffman, Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald (UMG) im Plenum des IPPNW-Kongresses 2016 den ersten Vortrag über "Die Gefahren ionisierender Strahlung".

[4] CT - Computer Tomographie (Bezeichnung des bildgebenden Verfahrens und des damit gewonnenen Abbildes) und Computer Tomographen (Geräte für die Durchführung von CTs).

[5] Mit Gray (Gy) wird die durch ionisierende Strahlung verursachte Energiedosis angegeben, mit der ein Körper belastet wird. 1 Gy entspricht 1 J/kg (Joule pro Kilogramm). Ein noch stärkerer Unterschied der Belastung wird bei ihrer Angabe in Sievert (Sv) als Maßeinheit für Strahlendosen deutlich. Eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs entspricht etwa 50 Mikrosievert, ein Computertomogramm (CT) 8 Millivievert (8mSv=8000µSv). Durchschnittlich beträgt die effektive Dosis durch Röntgenuntersuchungen pro Bürger und Jahr 1,6 Millisievert (mSv).

[6] Ian Fairlie promovierte über die Folgen der radioaktiven Verseuchung der Umgebung von Sellafield und La Hague. In Deutschland wird der Grenzwert von 0,001 Sv (= 1mSv) pro Jahr offiziell als unbedenklich eingestuft.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

INTERVIEW/209: Profit aus Zerstörungskraft - so was wie Diabetes ...    Liudmila Marushkevich im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0209.html

INTERVIEW/210: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0210.html

INTERVIEW/211: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0211.html

INTERVIEW/212: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 3 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html

INTERVIEW/213: Profit aus Zerstörungskraft - die Faust des Bösen ...    Jonathan Frerichs im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0213.html

12. April 2016


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