Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


INTERVIEW/226: Forschung, Klima und polar - Eisschmelze ...    Prof. Torsten Kanzow im Gespräch (SB)


Umweltphysik auf und mit der Polarstern

Recherche-Reise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 2./3. Juni 2016 nach Bremerhaven

Torsten Kanzow über das Verhalten von Meeresströmungen und Winden, die Ablösung der Pütz durch moderne Meßplattformen und die Verantwortung in der Wissenschaft


Der Forschungseisbrecher Polarstern befindet sich zur Zeit (Donnerstag, 12.00 Uhr) auf 65 Grad nördlicher Breite und 5 Grad östlicher Länge vor der norwegischen Küste auf dem Weg nach Spitzbergen. Später geht es von dort weiter in die Framstraße und zu einem nordostgrönländischen Gletscher auf 79 Grad nördlicher Breite. Die umfangreiche Auftragsliste, die auf dieser Arktisexpedition abgearbeitet werden soll, enthält unter anderem Messungen zum Verhältnis zwischen warmem Wasser, das aus dem Atlantik in den arktischen Ozean einströmt, und dem Export kalten Wassers aus den hohen Breiten in den Atlantik. Die Ergebnisse sollen zu dem Gesamtbild beitragen, das sich die Wissenschaft von der Arktis macht, die sich von allen Weltregionen unter dem Einfluß der globalen Erwärmung bereits am stärksten verändert hat.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Pressevertreter auf dem Weg zur Polarstern im Trockendock
Foto: © 2016 by Schattenblick

Jüngste Meldungen aus dieser Region bestätigen nicht nur den Trend, sie stellen dazu noch eine Steigerung dar: Im Monat Mai war das arktische Meereis so stark zusammengeschrumpft wie in keinem Vergleichsmonat seit Beginn der Satellitenbeobachtungen vor rund drei Jahrzehnten. Hält der Trend bis Ende August, Anfang September an, würde das bisherige Rekordminimum von 2012 noch unterboten. Der Blick aus dem All zeigt ebenfalls, daß die Arktis in diesem Zeitraum immer grüner geworden ist und sich Grasland zunehmend in Strauch- und Buschland verwandelt. Und schließlich das: Am 11. Juni kletterte das Quecksilberthermometer in der grönländischen Hauptstadt Nuuk auf mediterrane 24,8 Grad Celsius. Niemals zuvor war auf Grönland im Monat Juni eine so hohe Temperatur gemessen worden; überhaupt waren große Gebiete der Arktis in diesem Jahr ausgesprochen warm.

Die Polarforschung mißt gewissermaßen Temperatur und "Wohlbefinden" des Planeten. Das ist sicherlich eine rein menschliche Beschreibung, aber die Menschen haben nun einmal nicht die Fähigkeit und Neigung beispielsweise von Extremophilen, die sich in hundert Grad heißem Wasser submariner Schlote wohlfühlen. Vor allem aber unterscheiden sich Menschen von diesen Mikroorganismen darin, daß sie unter anderem aufgrund der Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energien wie Kohle, Erdöl und Erdgas den Treibhauseffekt verstärken und dadurch Hand an die eigenen Lebens- und Überlebensvoraussetzungen legen.

Die Gelegenheit, mit Vertreterinnen und Vertretern der deutschen Klima- und Polarforschung ins Gespräch zu kommen, die sich mit Fragen zu der Eisschmelze, dem ältesten Eis, dem Golfstrom und dem Einfluß der oberen Troposphäre und unteren Stratosphäre auf das Klima befassen, bot sich Journalistinnen und Journalisten am 2. und 3. Juni auf einer Pressereise in Bremerhaven. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) hatte zusammen mit ihrem Fachverband für Umweltphysik und dem Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) einen Besuch auf der Polarstern organisiert. Der über 100 Meter lange Forschungseisbrecher lag zu dem Zeitpunkt noch im Trockendock seines Bremerhavener Heimathafens. Neben einer Bordbesichtigung standen vier Fachvorträge aus der aktuellen Klima- und Meeresforschung auf dem Programm.

Am Rande des Treffens sprach der Schattenblick mit Prof. Torsten Kanzow, Mitkoordinator und Leiter der AWI-Sektion Physikalische Ozeanographie der Polarmeere, der auf der Polarstern den Vortrag "Welche Rolle spielt die Atlantikwasserzirkulation für den Rückgang des arktischen Meereises und der marinen Auslassgletscher Grönlands?" gehalten hat. Am Ende des Vortrags werde diese Frage stehenbleiben, kündigte Kanzow an. Er wolle Einblick in die aktuelle Forschung geben. Der Schwund des arktischen Meereises sei zwar Schwankungen von Jahr zu Jahr unterworfen, aber langfristig beobachte man einen dramatischen Rückgang. Die Serien an Temperaturmessungen der Meeresströmung aus dem Atlantik in den arktischen Ozean zeigten, daß den Polargebieten mehr Wärme zugeführt wird. Dies genauer zu erforschen und auch zu schauen, ob der jüngste Gletscherschwund im Nordosten Grönlands mit dem wärmeren Meerwasser zu tun hat, das an der Gletscherfront nagt, ist einer der Schwerpunkte seiner Forschungen.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Polarforschung hautnah - Prof. Kanzow erläutert thematische Karte zur arktischen Meereisausdehnung
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Kanzow, hatten Sie selbst schon einmal die Gelegenheit, auf der Polarstern mitzufahren?

Prof. Torsten Kanzow (TK): Nein, aber ich bin seit gut zwei Jahren am Alfred-Wegener-Institut und habe in dieser Zeit gemeinsam mit meiner Gruppe vom AWI an einer Arktisexpedition auf einem russischen Eisbrecher teilgenommen.

SB: Wo liegen die Berührungspunkte zwischen Ihren Forschungen und denen, die von der Polarstern aus durchgeführt werden?

TK: Das sind ganz fundamental dieselben Punkte. Zudem werde ich in diesem Sommer eine Reise der Polarstern leiten, die uns zum einen in die Framstraße führen wird, wo wir unsere Meßreihen verlängern, zum anderen auf den nordostgrönländischen Schelf. Dort können wir die Ankopplung der Warmwasserzirkulation an das Gletschersystem studieren.

SB: Ist die Pütz, die an einer Leine ins Wasser geworfen wird, um eine Probe zu nehmen, das gängige Handwerkszeug eines Ozeanographen oder was wäre sonst so richtig typisch für einen Meeresforscher?

TK: (lacht) Die Pütz war vielleicht in den 1930er Jahren ein typisches Arbeitsgerät des Ozeanographen. Heutzutage benutzen wir elektronische Meßverfahren für Temperatur und Salzgehalt, zur Strömungsmessung, und vor allem auch akustische Methoden. Ich arbeite viel mit verankerten Meßsonden, die sich längere Zeit an bestimmten festgelegten Tiefen im Ozean befinden und dort lange Zeitserien aufnehmen. Die werden gebraucht, um den langfristigen Wandel zu beschreiben.

SB: Was war bisher für Sie das spannendste Forschungsinstrument, mit dem Sie gearbeitet haben?

TK: Nicht nur die Meßgeräte ändern sich, sondern auch die Plattformen, auf denen sie installiert sind. Teilweise passieren die Revolutionen in der Forschung auch dadurch, daß man mit sehr viel flexibleren Plattformen arbeiten kann. Beispielsweise habe ich während zweier Expeditionen mit einem autonomen Tauchboot gearbeitet, auf dem ich eine spezielle Sensoranordnung anbringen konnte, um den Austausch von Wassermassen, die die globalen tiefen Ozeane ventilieren, mit den darüberliegenden Wassermassen zu erkunden. Ein sehr interessantes Meßgerät sind Turbulenzsonden, die die Austauschvorgänge mit einem hochsensiblen Meßkopf, der eine Größe von nur ein, zwei Millimetern hat, dementsprechend auf Millimeterskalen messen. Diese kleinen Austauschprozesse haben letztendlich fundamentale Bedeutung für die gesamte Schichtung des Ozeans und die großräumige Tiefenzirkulation.

SB: Lassen sich die Ergebnisse solcher kleinen Wirbelmessungen einfach hochrechnen oder tauchen dann Probleme auf, die bedacht werden müssen?

TK: Die Frage bei jeder Messung ist immer die nach der Repräsentativität. Eine Schwierigkeit besteht häufig darin, einen Gezeitenzyklus sauber abzutasten. Wenn wir in einem Regime sind, das hochgradig gezeitenbeeinflußt ist, und jetzt die Phase der schnellsten Geschwindigkeit messen, wenn also die meiste Turbulenz auftritt, dann darf man das natürlich nicht direkt auf ein längeres Bild übertragen. Das heißt, diese Messungen lassen sich durchaus hochrechnen, aber man muß das System verstehen, in dem man mißt.

Für Gebiete wie den tiefen Ozean ist eine Messung pro Monat repräsentativ; auch über große Raumskalen hinweg läuft dort unten alles viel langsamer ab. Für andere Messungen muß man über lange Zeit hochaufgelöst jede Stunde messen, um dann zu einem verläßlichen Monatsmittel zu gelangen. So laufen die Ereignisse an der Meeresoberfläche schneller ab, da findet ein direkter Austausch mit der Atmosphäre statt, so daß es zu stärkeren Schwankungen von Temperatur und Strömungsgeschwindigkeit kommt.

SB: Die bisher geringste arktische Meereisausdehnung wurde im Jahr 2012 registriert. Damals war die besondere Situation eingetreten, daß im Sommer zusätzlich zum generellen Trend des Meereisschwunds auch noch ein Sturm das restliche Meereis auseinandergetrieben und dadurch den Schmelzvorgang nochmals beschleunigt hat. Sie selbst haben heute einen Vortrag über die Bedeutung der Atlantikwasserzirkulation auf das Meereis gehalten. Könnten Sie eine Bewertung vornehmen, welcher Einfluß auf das Meereis überwiegt, der des Windes oder der der Meeresströmung?

TK: Auf diese Frage muß man sicherlich eine komplexere Antwort geben. Wenn wir uns die Arktis und Antarktis anschauen, so stellen wir fest, daß sie sich fundamental voneinander unterscheiden. In der Antarktis hat man eine Landmasse in der Mitte und drumherum ist der Ozean. In der Arktis hat man in der Mitte einen Ozean und drumherum ist Land. Das hat zunächst einmal eine enorme Bedeutung für die Art und Weise, wie das Eis verdriftet. In der Antarktis existiert ein Windfeld, was dazu führt, daß das Eis, das primär an der Küste gebildet wird, wo auch die geringsten Temperaturen herrschen und kalte Winde vom Kontinent her kommend die Eisbildung hervorrufen, nach Norden geschoben wird und dann irgendwann in eine Region wandert, in der es schmilzt. Da ist das Windsystem enorm wichtig.

In der Arktis ist es so, daß die Landmassen das Eis in irgendeiner Form gefangen halten. Wir haben große Regionen nördlich von Grönland, in denen die Ozeanzirkulation - die allerdings teilweise ein Resultat des Windes ist; das läßt sich nicht strikt trennen -, das Eis an die Küste Grönlands schiebt, wo es sich dann aufstaut. Oder wir haben ein Gebiet im kanadischen Becken, wo die Ozeanzirkulation, angetrieben wiederum durch den Wind, dann das Eis mit sich führt und eben auch zusammendrückt.

Wir haben natürlich auch Aspekte, die Sie ansprachen, wo kurzfristige Änderungen und massive Veränderungen im Windfeld das Eis dann auseinander- oder zusammentreiben können. Das kann ebenfalls zu großen jährlichen Schwankungen der Meereisfläche führen. Da wird mal mehr, mal weniger Meereis aus der Arktis zum Beispiel auch durch die Framstraße nach Süden exportiert. Es ist also nicht so ganz einfach, diese Aspekte voneinander zu trennen.

SB: Sie sprachen in Ihrem Vortrag von einem Meeresspiegelanstieg von zwei bis drei Millimetern pro Jahr. Laut den jüngsten Zahlen der US-Behörde NOAA, der National Oceanic and Atmospheric Administration, beträgt der Anstieg 3,2 Millimeter. James Hansen, der ehemalige Chefwissenschaftler der US-Raumfahrtbehörde NASA hat gemeinsam mit 16 anderen Forschern vornehmlich aus den USA im vergangenen Jahr eine Studie herausgegeben, derzufolge der globale Meeresspiegel noch in diesem Jahrhundert um mehrere Meter steigen könnte. Wir haben hier also zwei US-amerikanische Quellen, die von größeren Zahlenwerten ausgehen als Sie. Gehen die US-Wissenschaftler mit den Prognosen vielleicht etwas forscher voran?

TK: Ich glaube, diese drei Millimeter sind schon ein realistischer Wert. Man muß bedenken, daß jede Messung Unsicherheiten birgt. Wenn man drei Millimeter nimmt und hat eine Unsicherheit von 0,5 Millimeter nach oben und unten, dann liegen diese Zahlen nicht sehr weit auseinander. Dann ist das kein Widerspruch zu meiner Angabe von zwei bis drei Millimetern.

Aber diese drei Meter Meeresspiegelanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts sind eine Zahl, an die ich nicht glauben mag. Selbst wenn man mit einem jährlichen Anstieg des Meeresspiegels von fünf Millimetern rechnen müßte, dann sind das fünf Zentimeter in zehn Jahren oder fünfzig Zentimeter in hundert Jahren, was weit über dem ist, was wir derzeit sehen. Selbst dann wären wir also noch lange nicht bei drei Metern.

SB: Hätte der Titel Ihres Vortrags auch genau umgekehrt lauten können, nämlich: "Welche Bedeutung spielen der Rückgang des arktischen Meereises und die marinen Auslaßgletscher Grönlands für die Atlantikwasserzirkulation?" Oder ist das Ursache-Wirkungs-Verhältnis nur in eine Richtung zu sehen?

TK: Nein, das Ursache-Wirkungs-Verhältnis ist sicherlich nicht nur in eine Richtung zu sehen. Denn wenn wir beispielsweise aufgrund der Gletscherschmelze einen erhöhten Eintrag von Süßwasser in den Ozean haben, dann verändert sich dadurch die Schichtung des Wassers. Wir erhalten dann ein Kappe von leichtem Wasser, das eine geringere Dichte hat. Die Stabilität der Wassersäule würde sich erhöhen, wodurch vertikale Durchmischungsprozesse im Ozean erschwert oder sogar unterbunden werden könnten. Das hätte vermutlich wieder eine Rückwirkung auf die Art und Weise, wie warmes Atlantikwasser an die Gletscher herangeführt werden kann. Solche Rückkopplungen sind Gegenstand der Untersuchung, die wir zusammen mit anderen Universitäten vorhaben.

Das ist beim Rückgang des Meereises ähnlich. Man kann sich fragen, was die Atlantikwasserzirkulation antreibt, wenn ein wesentlicher Antriebsfaktor in der Arktis der große Kontrast zwischen dem Süßwasser in den Flachwassergebieten auf dem Schelf und dem Atlantikwasser im Beckeninneren ist. In dem Moment, wo das Meereis zurückgeht und der Ozean deutlich exponierter gegenüber der Atmosphäre ist, würde sehr viel mehr Energie in den Ozean eingetragen. Dadurch könnte gegebenenfalls mehr Atlantikwasser hochgemischt werden, was sich wiederum auf die Art und Weise, wie die Stärke und Struktur der Atlantikzirkulation verläuft, auswirkt.

SB: Es heißt, daß die Mondoberfläche genauer kartiert ist als der Meeresboden. Gilt das heute immer noch?

TK: Ich persönlich mag diesen Vergleich nicht besonders. Der wird von uns immer dann gerne genommen, wenn begründet werden soll, weshalb wir mehr Beobachtungen machen und Messungen durchführen müssen. Ich halte diesen Vergleich für ziemlich schwach. Denn der Mond hat weder eine Atmosphäre noch einen Ozean, er liegt klar dar und man kann ihn fotografieren. Davon kann man sicherlich auch einige Dinge über die Zusammensetzung des frühen Weltalls ableiten. Ich glaube aber, es geht gar nicht so sehr darum, überall auf der Erde einmal gewesen zu sein und eine Messung gemacht zu haben, sondern wir wollen ja eigentlich die Klimaänderungen verstehen. Das ist zumindest eine der Hauptforschungsrichtungen der Klimawissenschaften. Da nutzt uns der Vergleich zum Mond überhaupt nichts.


Beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Turbulenzsonden messen Austauschvorgänge im Meerwasser mit einem hochsensiblen Meßkopf, der eine Größe von nur ein, zwei Millimetern hat."
(Prof. Torsten Kanzow, 3. Juni 2016, im blauen Salon auf der Polarstern)
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Verhalten sich Meeresströmungen im Ozean ähnlich wie Windströmungen in der Atmosphäre?

TK: Ja.

SB: Werden bei der Erforschung ähnliche Algorithmen verwendet?

TK: Genau, die Physik ist ähnlich. Sowohl im Ozean als auch in der Atmosphäre haben wir ein großräumiges Strömungsfeld, nur die Zeit- und Raumskalen sind unterschiedlich. Die Atmosphäre ist ein sehr schnellebiges System. Das liegt zum Teil daran, daß man ihr nur wenig Wärme zuführen muß, um große Temperaturänderungen zu bewirken. Das ist im Ozean ein bißchen anders. Dafür sind dort wiederum die Raumskalen kleiner. Das liegt an der Schichtung der Ozeane. Aber die grundlegende Physik, daß es quasi Hochdruck- und Tiefdruckgebiete gibt, und die Zirkulation großräumig um diese Gebiete herum verläuft, wie man das von Wetterkarten her kennt, ist im Ozean genauso. Aber die Parameter und die Skalen sind ganz anders. Das heißt, daß der Ozean ein längeres Gedächtnis hat, sich langsamer verändert, aber in der Lage ist, sehr viel mehr Wärme zu speichern. Somit sind viele der hydrodynamischen Gleichungen ähnlich angelegt, nur mit verschiedenen Parametern.

SB: Kann man sagen, daß es auch im Ozean Wetter gibt?

TK: Ja. Was in der Atmosphäre diese Tiefdruckgebiete sind, die über Deutschland hinwegziehen, das sind im Ozean ganz äquivalent Wirbel. Wir nennen sie Eddies. Die haben vielleicht nicht Skalen von tausend Kilometern wie in der Atmosphäre, sondern möglicherweise hundert Kilometer, aber die gibt es ganz genauso.

Der Ozean ist noch ein bißchen mehr topographisch geführt als die Atmosphäre, weil man immer seitliche Berandungen vorliegen hat. Aufgrund der Randströmungen wie dem starken Golfstrom oder dem Kuroshio im Westpazifik unterscheiden sich Ozeane stark von der Atmosphäre. Solche Phänomene gibt es derart ausgeprägt in der Atmosphäre nicht. Dort funktionieren die Austausche mehr über die Tiefs und Hochs.

SB: Vom Wetter sagt man, daß eine Vorhersage von drei Tagen noch relativ zuverlässig ist, bei fünf Tagen wird es schon unsicher, nach einer Woche fast schon Rätselraten. Gilt das für Strömungen im Meer auch oder verhält sich dieses aufgrund seiner Trägheit anders?

TK: Auch im Ozean gibt es sehr schnelle Schwankungen, aber generell ist es schon so, daß er langsamer reagiert als die Atmosphäre. Trotzdem haben wir große Probleme, Vorhersagen zu treffen. Damit sind nicht ein oder zwei Wochen gemeint - wenn man die erforderliche Datengrundlage hat, die für den Ozean oft nicht so gut ist wie für die Atmosphäre, kann man das zuverlässig schaffen. Aber wie die Atmosphäre ist auch das ozeanische System chaotisch und instabil. Das begrenzt die Vorhersagbarkeit. Es sei denn, man hat es mit ganz großen Zusammenhängen zu tun. Die weisen teilweise schon eine Vorhersagbarkeit auf wie die großräumige Umwälzzirkulation, von der der Golfstrom ein Teil ist.

SB: Ist Meeresforschung Ihre Leidenschaft oder haben Sie sich schon einmal gesagt, eigentlich wäre ich doch nicht so gerne Meeresforscher geworden?

TK: Nein, ich habe nie bereut, daß ich Meeresforscher geworden bin. Wie in jedem Beruf können einen natürlich manchmal auch Dinge ärgern. Man muß beispielsweise sehen, daß die Arbeitsverhältnisse lange Zeit Unsicherheiten für eine Familie bedeuten. Das ist vielleicht ein Punkt, der ein bißchen schwierig sein kann und auf den man sich einlassen muß. Aber im großen und ganzen bin ich sehr, sehr glücklich, ein Meeresforscher geworden zu sein. Denn insbesondere der experimentelle Bereich erschließt einem sehr viel: Es ist ein internationaler Bereich, man hat also sehr viel mit Kollegen in verschiedenen Ländern zu tun, man lernt sehr interessante Kollegen kennen und hat die Möglichkeit, die Experimente für die Feldforschung zu designen. Da arbeitet man dann mit Technikern, mit anderen Wissenschaftlern und letztlich auch mit der Schiffsführung zusammen. Man vollzieht also den ganzen Prozeß, vom Anbahnen des Projektes bis hin zur Analyse.

Jetzt bin ich langsam in einer Position, daß ich die Doktoranden anleite. Das ganze ist ein schöner Prozeß, und man stößt auch immer noch auf Überraschungen, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann. Also, ich bin eigentlich sehr glücklich über meine Berufswahl.

SB: Im vergangenen Jahr war das Forschungsschiff Sonne unterwegs zu einem Grabenbruch beim Mittelatlantischen Rücken. Dort sollte unter anderem das benthische Leben erforscht werden und plötzlich hat man dort Manganknollen entdeckt und damit ein potentielles Gebiet für Tiefseebergbau. Ob dieser irgendwann dort stattfinden wird oder nicht - besteht für Wissenschaftler das Dilemma, daß sie eigentlich das tierische Leben erforschen wollen, aber aufgrund der eigenen Entdeckung dort eines Tages Bergbau betrieben werden könnte, durch den jenes benthische Leben zerstört würde? War so etwas schon einmal ein Problem für Sie, so daß Sie sagten: Oh, das hätten wir besser nicht entdeckt?

TK: Ich persönlich habe so etwas noch nicht erlebt, für die Forschung, die ich mache, gilt das nicht. Aber natürlich überschneiden sich Bereiche zwischen der Forschung am AWI und den Interessen der Industrie. Denken Sie an die Eisforschung: Der Rückgang des arktischen Meereises weckt auch Begehrlichkeiten für die Exploration im Bereich der Arktis. Natürlich sind unsere Meßmethoden und die Ergebnisse über die Eisdickenverteilung interessant für Ingenieure, die sich überlegen, unter welchen Bedingungen man in der Arktis Erdöl fördern kann.

SB: Viele Grönländer freuen sich über den Klimawandel, weil durch den Rückzug der Gletscher beispielsweise Uranlagerstätten zugänglich werden, deren Abbau den Wohlstand mehren könnte. Das wird natürlich in anderen Weltregionen nicht anders gehandhabt.

TK: Genau so ist es. Man kann es ihnen nicht verdenken. Als Wissenschaftler müssen wir sehr stark darauf achten, was immer wir für Projekte machen, und es ist ja auch nichts dagegen zu sagen, mit der Industrie zu kooperieren, wenn man das zu Bedingungen macht, die transparent sind, hinter denen man stehen kann und die es einem auf jeden Fall erlauben, die Daten, die man erhält, zu publizieren und damit der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Denn das ist das, wovon die Wissenschaft lebt und wo sie vorangeht. So kann dann jeder nachschauen, ob das, was man herausgefunden hat, stimmig ist oder ob die Daten auch anders interpretiert werden können. Wenn das nicht gewährleistet ist, dann wird es eben sehr, sehr schwierig für die Wissenschaft.

SB: Vielen Dank, Herr Kanzow, für das ausführliche Gespräch und dieses passende Schlußwort.


Foto: Hellbuny, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/] via Wikimedia Commons

Eine von vielen Strudelphänomenen im Meer: Gezeitenstrudel in der Naruto-Straße zwischen den japanischen Inseln Oge-jima (Naruto) und Awaji
Foto: Hellbuny, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/] via Wikimedia Commons


Bisher zur Recherche-Reise der DPG nach Bremerhaven im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/118: Forschung, Klima und polar - Hautkontakt und Daten ... (SB)
INTERVIEW/225: Forschung, Klima und polar - Launen, Ströme, nackte Zahlen ...    Prof. Monika Rhein im Gespräch (SB)


16. Juni 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang