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INTERVIEW/254: Gemessen essen - Wissenschaft vor Urteil ...    Prof. Dr. Peter Stehle im Gespräch (SB)


DGE-Journalistenseminar am 1. Februar 2017 im Universitätsclub Bonn
Besseres Essen für alle: Welchen Beitrag leisten die DGE-Qualitätsstandards? - Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts

Prof. Dr. Peter Stehle über Mangelvermeidung und Prävention als Aufgabe der Ernährung, die Komplexität von Ernährungsstudien und warum selbst ein Ernährungsexperte auch mal eine Currywurst essen darf


"Ernährung ist ein sehr komplexes Thema, jeder hat eine Theorie dazu, keiner weiß wirklich Bescheid und am Ende kommt sowieso nur das heraus, was man immer schon gedacht hat." Dieser Satz stammt nicht aus der Feder eines Kritikers der Ernährungsforschung, sondern aus berufenem Munde, mit einem Schmunzeln zum besten gegeben von Referenten auf einem Journalistenseminar, das die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) am 31. Januar und 1. Februar 2017 in Bonn abgehalten hat. Die ganzheitliche Betrachtung der Ernährung kann auf die Beschreibung einzelner Nährstoffe ebenso wenig verzichten wie umgekehrt der analytische Ansatz, bei dem die Nahrung in ihre Bestandteile zerlegt wird, ohne sich ein umfassenderes Bild der Ernährungslage zu machen.

Anlaß des Treffens war die Präsentation des 13. Ernährungsberichts [1] der DGE. Bei diesen Berichten im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft handelt es sich um alle vier Jahre erscheinende Bestandserfassungen der Ernährungssituation in Deutschland, die durch Handlungsempfehlungen ergänzt werden. Das aktuelle, 400 Seiten umfassende Werk ist in sechs Hauptkapitel gegliedert:

- Ernährungssituation in Deutschland
- Verpflegung in Kindertageseinrichtungen
- Evaluation des DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in stationären Senioreneinrichtungen
- Einfluss von Lebensmittelverarbeitung und Mahlzeitenzubereitung auf die Lebensmittelauswahl, die Nährstoffzufuhr, die Zufuhr von Zusatzstoffen und das Körpergewicht von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
- Evidenzbasierte Analyse zum Einfluss der Ernährung in der Prävention von Krebskrankheiten, Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskulären Krankheiten
- Evidenz für die Wirkung von Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention von Adipositas - eine systematische Übersicht

Abgeschlossen wird der Bericht mit einer 30-seitigen Zusammenfassung der einzelnen Kapitel. Die Kapitel 2 und 3, denen jeweils eigene, umfassende Studien zugrundeliegen, waren vorab veröffentlicht worden. Der Fokus des 13. Ernährungsberichts liegt auf der Evaluierung des DGE-Qualitätsstandards.

Wie komplex das Thema Ernährung ist und welche Facetten es enthält, verdeutlichte auch der Chefredakteur des 13. Ernährungsberichts, Prof. Dr. Peter Stehle vom Institut für Ernährungsforschung, Ernährungsphysiologie der Universität Bonn, in einem Interview, das der Schattenblick mit ihm auf dem Journalistenseminar geführt hat.


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Peter Stehle
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Könnten Sie unserer Leserschaft erklären, warum eine regelmäßige Bestandsaufnahme der Ernährungssituation wichtig ist?

Prof. Peter Stehle (PS): Die Ernährung und generell die Versorgung mit Lebensmitteln hat verschiedene Aufgaben. Wir müssen garantieren, daß die Menschen in Deutschland genügend ernährungsphysiologisch qualifizierte, hochwertige Lebensmittel erhalten und diese immer zur Verfügung stehen. Außerdem müssen wir beobachten, ob sich das im Sinne einer von uns definierten, gesundheitsfördernden Ernährung entwickelt. Dazu ist es dann wichtig, langfristige Daten zum Lebensmittelverbrauch anzuschauen. In diesem Fall sind das Agrarstatistikdaten, die, über eine längere Zeit betrachtet, schon ganz wichtige Hinweise zu den Trends liefern. Dann können Politik und Wissenschaft versuchen, hier ein wenig steuernd einzugreifen.

SB: War es historisch gesehen schon immer so, daß sich ein Staat für die Ernährung seiner Bevölkerung interessiert hat?

PS: Daran bestand schon immer ein Interesse, nur die Fragestellungen haben sich geändert. Beispielsweise mußte in den vierziger Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg, dafür gesorgt werden, daß die Ernährung keinen Mangel produziert und letztendlich alle benötigten Nährstoffe vorhanden sind. Die Verfügbarkeit sowohl von Lebensmitteln als auch von Nährstoffen mußte gesichert werden. In den letzten Jahren kam die Prävention hinzu. Bei ihr geht es um einen langfristigen Schutz durch eine adäquate Ernährung, einen Schutz vor der Entwicklung von Krankheiten oder zumindest eine Risikominimierung. Das ist politisch sehr interessant, auch hinsichtlich der Kommunikation mit der Bevölkerung. Tatsächlich hat das Interesse an der Ernährung zugenommen.

SB: Was sind die wichtigsten Trends vom 12. Ernährungsbericht, den Sie ebenfalls als Chefredakteur betreut haben, und dem aktuellen 13. Ernährungsbericht? Was hat sich am stärksten geändert?

PS: Die Änderungen im Konsumverhalten bei Lebensmitteln sind nur gering und treten allenfalls in einzelnen Produktgruppen auf. Grundsätzlich hat sich da in den letzten fünf bis zehn Jahren nicht viel getan. Der Verzehr von Fleisch und Fleischwaren ist noch immer relativ hoch; der Gemüse- und Obstverzehr stagniert, lediglich bei einzelnen Sorten gibt es Trends nach oben oder unten. So schnell kann man das Verhalten einer Bevölkerung, die eine bestimmte Tradition pflegt, auch nicht ändern. Das gilt allerdings nicht nur für die Ernährung, sondern auch für andere Dinge.

SB: Inwiefern geht der 13. Ernährungsbericht auf die Ernährungssituation von Hartz IV-Empfängern oder die rund eine Millionen Menschen, die Nahrung von den Tafeln beziehen, ein?

PS: Darauf geht dieser Bericht nicht speziell ein, und auch der letzte Ernährungsbericht besaß keine Fokussierung auf diese Bevölkerungsgruppe. Die Ernährungsberichte sind so gestaltet, daß zum einen jedesmal über Entwicklungen beim Lebensmittelverbrauch und dem Gesundheitsstatus - hier speziell Übergewicht oder Adipositas - berichtet wird. Zum anderen werden einzelne Projekte finanziert, und in diesem Fall lag der Fokus auf einer Evaluation der Qualitätsstandards, was bisher so noch nicht gemacht worden war.

Während meiner Präsidentschaft der DGE wurden wir einmal gefragt, was zu einer minimalen Versorgung von sozial eher in der unteren Klasse beheimateten Menschen, von Hartz IV-Empfängern und so weiter, dazu gehört. Das mußten wir dann definieren. Aber eine Evaluation der Ernährungslage bei diese Menschen wurde zumindest nicht seitens der DGE durchgeführt.

SB: Vor kurzem wurde berichtet, daß in Schulkantinen von Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Lebensmittel weggeworfen werden. [2] Ich könnte mir vorstellen, daß es für die DGE interessant wäre, herauszufinden, ob ihre Empfehlungen auf den Zuspruch der Konsumentinnen und Konsumenten stoßen. Weiß man, welche Lebensmittel weggeworfen werden? Salopp gefragt: Ist es das Gemüse oder sind es die Pommes frites?

PS: Ich glaube, das weiß man noch nicht. Aber im Rahmen eines Projektes von "IN FORM" [3], das vom Bundesministerium für Ernährung unterstützt wird, bemüht man sich, das Wegwerfen von Lebensmitteln zu reduzieren. In diesem Rahmen werden auch Erhebungen durchgeführt, deren Ergebnisse ich noch nicht kenne. Da wird dann nachgefragt: Was wird weggeworfen? Warum wird etwas weggeworfen? Zudem wird bei Lebensmitteln viel über Hygiene und Haltbarkeit geredet. Nach dem Standardverfahren, das wir anwenden und das HACCP-Konzept (Anm. d. SB-Red.: Hazard Analysis and Critical Control Points) genannt wird [4], bestehen noch gewisse Möglichkeiten, einzuschreiten. Ich glaube, da ist noch nicht alles optimiert.

SB: Auch bei der Erhebung der Daten ist anscheinend noch nicht alles optimiert. So wurden beim letzten Vortrag über "Trends im Lebensmittelverbrauch" Agrarstatistiken gegeneinander gehalten und Produktionszahlen für Deutschland errechnet, in denen unter anderem die Erzeugnisse, die von vornherein auf dem Feld liegen bleiben oder später aussortiert werden, bevor sie in den Handel kommen, gar nicht in den Produktionszahlen auftauchen.

PS: Für das Problem habe ich auch keine direkte Lösung. Wir hatten mal in der Wissenschaft Professuren, die hießen beispielsweise "Nacherntephysiologie". Die sind irgendwann verschwunden, zumindest für Bonn kann ich das sagen. Da gehörte das, was Sie ansprechen, ebenso zu den Inhalten wie die Frage der Lagerung von Lebensmitteln, die Transporteffekte auf deren Physiologie, also auf die Stabilität, Hygiene, den Verderbtheitsgrad und so weiter. In den Gesellschaften des Überflusses wie Deutschland bestand daran irgendwann kein Interesse mehr. Da ging es dann eher um die Frage, ob ein Obst in der Lage ist, das Risiko für bestimmte Krankheiten zu reduzieren. Da haben sich die Schwerpunkte verschoben. Die DGE hat sich bisher mit der Aufrechterhaltung einer ordentlichen Versorgung beschäftigt, also zunächst einmal mit Mangel und dann auch der Präventionsseite. Das Thema Wegwerfen von Lebensmitteln war vor fünf Jahren noch gar nicht in der Diskussion.

SB: Drückt sich darin die Not eines generellen Lebensmittelmangels aus? Die Frage, inwiefern die Versorgung selbst für Deutschland gesichert ist, kam vor einiger Zeit auf, als die Bundesregierung ihre neue Zivilschutzstrategie [5] vorstellte und den Bürgerinnen und Bürgern empfahl, sich zu bevorraten. Das hat bei einigen einen Schrecken ausgelöst, die sich gefragt haben: Oh, geht es jetzt wieder los ...?

PS: Sie sprechen mit jemanden, der im Jahre 1955 geboren ist und glücklicherweise keine Erfahrung mit solchen Situationen hat. Unter normalen Umständen, wenn alles so bleiben würde, wie wir zur Zeit leben, also mit der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und dem freien Warentransport, dann wird meiner Meinung nach in Deutschland absehbar kein Mangel entstehen. Anders verhält es sich mit Entwicklungsländern, in denen teilweise jetzt schon unter anderem aufgrund von Klimaveränderungen kritische Situationen entstehen.

Es kommt natürlich immer auf die politische Lage an. Wenn Sie in einer Diktatur leben müssen, wie es sie in Afrika teilweise noch gibt, dann würden Sie da durchaus noch Probleme mit der Versorgung haben. Das ist eindeutig so. Inwieweit wir darauf Einfluß nehmen könnten, ist eine andere Frage. Jedenfalls sind auf unserem deutschen Markt zu viele Lebensmittel verfügbar. Wir haben einen Überschuß an Angebot. Das läßt sich durch Zahlen belegen und zeigt sich zum Beispiel an Flächen in Supermärkten, die für Lebensmittel reserviert sind. Untersuchungen zufolge liegt in unseren Supermärkten und Discountern ein Viertel zuviel für das aus, was wir eigentlich essen sollten, selbst wenn der Handel eine gewisse Auswahl an Gemüse zur Verfügung stellen will. Da liegt das Problem, denn der Handel möchte möglichst viele Produkte verkaufen.

SB: Was sagen Sie zu der Gegenüberstellung, die in den Medien gerne kolportiert wird, daß auf der einen Seite weltweit 800 Millionen Menschen hungern und auf der anderen mindestens eine Milliarde Menschen übergewichtig ist? Da wird so getan, als sei das Problem ganz einfach zu lösen.

PS: Ich sehe nicht, daß man das einfach gegeneinander rechnen kann, nach dem Motto: Ich bringe das Essen einfach dahin, und die essen das dann. Ich beschäftige mich zwar nicht wissenschaftlich mit Fragen der Welternährung, aber bin an Konsortien beteiligt, die auch weltweite Daten über die Zeit auswerten, zum Beispiel Entwicklung des Körpergewichts und der Körpergröße. Daraus geht hervor, daß es nicht immer so ist, daß die Übergewichtigen nur in Europa und den USA leben. Viele Übergewichtige leben auch in Afrika oder Asien, und deren Anteil an der Bevölkerung nimmt teilweise schneller zu als bei uns. Ich bin schon lange im Geschäft und weiß, daß da gerne etwas als kontrastierende Darstellung benutzt wird. Hier ein Foto von einem hungernden Kleinkind in "irgendwo" und daneben ein dickes Kind auf dem Schulweg in den USA. Das halte ich schon für sehr plakativ.

SB: Zumal von den ärmeren Menschen bekannt ist, daß gerade sie aufgrund des Verzehrs von Junk Food eher an Gewicht zulegen.

PS: Genau, da spielt das Geld durchaus eine Rolle. Wir haben hier einen Luxus, dürfen uns über vegetarische Kostformen und vegane Ernährung Gedanken machen, dürfen über Bioprodukte reden, die zweimal teurer sind als andere, und schlucken das einfach so. Wir können das, doch ich weiß nicht, wer das sonst noch könnte. Andere Länder selbst in unseren europäischen Breitengraden beschäftigen sich überhaupt nicht oder nur sehr wenig mit dem Thema. Dort geht es einfach nur um die Frage, wie jemand seine Energie zusammenbekommt, also genügend zu essen hat.

SB: Existieren hinsichtlich von Ernährungsempfehlungen kulturspezifische Unterschiede? Raten beispielsweise asiatische Ernährungsexperten der dortigen Bevölkerung zu einer ganz anderen Nahrungsaufnahme als europäische?

PS: Wir müssen hier zwei Ebenen unterschieden, die der Nährstoffe und die der Lebensmittel. Wir haben Nährstoffreferenzwerte, die sind für Menschen generell gültig. Das schließt trotzdem nicht aus, daß unterschiedliche Empfehlungen verbreitet werden. Die können selbst zwischen England und Deutschland voneinander abweichen. Nehmen wir zum Beispiel Vitamin C. Die DGE empfiehlt die Aufnahme von 100 Milligramm täglich. In England wird meines Wissens zufolge 60 Milligramm pro Tag empfohlen. Da muß ich schon fragen, warum eigentlich? Aber es kommt auf die Berechnung an. Die Berechnung der Empfehlung für lebensnotwendige Nährstoffe sollte immer von den Bedarfszahlen - die wir aber nicht immer exakt kennen - ausgehen. Dann werden noch verschiedene Sicherheitszuschläge berücksichtigt. Solche Berechnungen können regional unterschiedlich ausfallen.

Darüber hinaus muß bedacht werden, wenn man so eine Zahl erstellt hat, daß sie durch die verfügbaren Lebensmittel und das Kaufverhalten der Bevölkerung auch gedeckt werden muß. Wenn die Nährstoffempfehlungen durch die regional verzehrten Lebensmittel nicht abgedeckt werden, entsteht kräftiger Gegenwind. Deswegen unter anderem gibt es schon gewisse Spannbreiten.

Die Übertragung der Empfehlungen für Lebensmittel ist natürlich sehr regional geprägt. Eine Ernährungswelt in Asien unterscheidet sich traditionell sehr von einer westeuropäischen. Trotzdem schaffen es die Menschen, sich letztendlich die erforderlichen Nährstoffe zuzuführen. Gleiches gilt für Südamerika. Dort werden fast keine Kohlenhydrate, also wenig Kartoffeln und wenig Brot, dafür aber große Mengen Fleisch und dazu noch Hülsenfrüchte verzehrt. Trotzdem gelingt es den Menschen, sich alle notwendigen Nährstoffe zuzuführen.

SB: Man kann also sagen, daß es keine prinzipiellen Einschätzungsunterschiede gibt, welche Nährstoffe förderlich sind und welche nicht?

PS: Was die unentbehrlichen Nährstoffe betrifft, ist das Bild einheitlich. Da wird nirgends gesagt, daß ein bestimmter Nährstoff nicht gebraucht wird, den andere für lebensnotwendig halten. Was den Referenzwert betrifft, den man dann empfiehlt, das habe ich gerade versucht zu erklären, kann es Unterschiede geben.

SB: Kann man sagen, daß sich ein Referenzwert stets aus dem Mangel errechnet, aus der Erfahrung, wann bestimmte Krankheiten entstehen, und nicht aus einer positiven Erscheinung?

PS: Man muß hier zwei Aspekte beachten: Das eine ist die Vermeidung von Mangelkrankheiten, das andere die Prävention. Für den Referenzwert ist primär der Mangel entscheidend: Wenn Sie keine ausreichende Menge an Vitamin C zu sich nehmen, bekommen Sie Skorbut. Logischerweise kann man dazu keine Studien machen. Sie können keinem Menschen Vitamin C verweigern und warten, bis er krank wird, und dann additiv gewisse Mengen Vitamin C zuführen und schauen, ob die Krankheit wieder verschwindet. Also ist man auf Statistiken angewiesen und versucht, epidemiologische Zusammenhänge zwischen dem Rückgang von Krankheiten und ihrer Entstehung aufzuzeigen und diese auf die Nährstoffebene zu transferieren. Das ist in der Regel eine riesige Herausforderung. Manchmal lassen sich Tierstudien durchführen, aber deren Übertragbarkeit auf den Menschen hat ihre Grenzen.

Interessant ist, was zum Referenzwert für Calcium beigetragen hat. Es gab vor Jahrzehnten ein Gefängnis in den USA, in dem die Menschen in einer bestimmten Weise ernährt wurden. Retrospektiv hatte man entdeckt, daß die Insassen über einen längeren Zeitraum nur ca. 250 Milligramm Calcium täglich erhalten hatten. Da sich bei ihnen keine Osteoporose einstellte, konnte man sagen, daß diese 250 Milligramm Calcium täglich ausreichend sind. Der einzige Nährstoff, über den wir etwas mehr Bescheid wissen, ist Eiweiß als Lieferant für Stickstoff. Wir sind in der Lage, Bilanzstudien durchzuführen, ohne den Menschen gleich zu gefährden. Hierbei wird die Stickstoffausscheidung und die Stickstoffzufuhr erfasst. Mit diesem Hilfskonstrukt können wir die Versorgung bewerten.

Ich sage immer: Ernährung ist ein tolles Forschungsgebiet, wir dürfen uns nur manchmal nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen. Als Beispiel für ein Zuviel an positiven Aussagen betrifft die Antioxidanzien. Erinnern Sie sich noch an die Studie zu Beta-Carotin, das in hohen Dosen supplementiert wurde, um vor Lungenkrebs und Bluthochdruck zu schützen? Das genaue Gegenteil trat ein. [6]

Aus diesem Grund halte ich mich da immer zurück und versuche, auf dem Boden dessen zu bleiben, was wir wissen. Es ist eben nicht so, daß wir selten sagen können, daß DAS Produkt oder DER Nährstoff genau DAS im Sinne von Prävention bewirkt. Nehmen Sie den Ernährungskreis der DGE zum vollwertigen Essen und Trinken. [7] Dort sind bestimmte Lebensmittel als Bild dargestellt. Wir müssen sicherlich regelmäßig überprüfen, on nicht doch noch weitere Produkte aufgelistet werden oder bestimmte Lebensmittel weniger dominant dargestellt werden sollten.

SB: Hat es Einfluß auf die Bewertung von Lebensmitteln, daß beispielsweise in Fischen, die ja viel Fett enthalten, vermehrt Umweltschadstoffe enthalten sind? Oder daß in Pilzen radioaktive Stoffe gefunden werden?

PS: Die akuten Vergiftungen, Rückstände und Kontaminationen lassen sich nur schwer in langjährigen Konzepten berücksichtigen, aber die Ökologie spielt schon eine Rolle. Wir hätten damals, als wir eine Bewertung zu Fisch zusammengestellt haben, gerne gesagt: Eßt mindestens zwei- bis dreimal Fisch pro Woche, nicht nur ein- bis zweimal! Das allein aufgrund wissenschaftlicher Daten, nicht aus Geschmacksgründen. Aber wir haben uns gesagt, daß wir das nicht machen können, denn so viel Fisch ist weltweit gar nicht verfügbar.

Aus physiologischer Sicht haben die langkettigen Omega-3-Fettsäuren - und zwar nur die langkettigen, die in Fisch enthalten sind, die pflanzlichen nützen uns da nichts -, eine nachgewiesene Präventionswirkung. Sie mindern das Risiko für die Entstehung bestimmter Krankheiten. Das ist, glaube ich, relativ klar. Demnach wäre es sinnvoll zu sagen, wir müssen mehr langkettige Omega-3-Fettsäuren haben und statt dessen die Omega-6-Fettsäuren runterfahren. Das scheitert an der Fischverfügbarkeit.

Aber es gibt seitens der Industrie sehr viel Engagement, um langkettige Omega-3-Fettsäuren zu kultivieren, zum Beispiel mit Mikroorganismen oder Algen, die im Bioreaktor gehalten werden. Das würde den Fischverzehr schonen. Wobei sowieso zu bedenken ist, daß Fische aus der Aquakultur nur dann Omega-3-Fettsäuren aufweisen, wenn sie auch entsprechendes Futter erhalten. Der Fisch an sich, beispielsweise der Lachs, bildet im Organismus selbst keine oder nur geringe Mengen an Omega-3-Fettsäuren. Ähnlich wie der Mensch. Der Fisch nimmt die Fettsäuren durch den Verzehr von Krill, Plankton oder ähnliches auf. Wie gesagt, Ernährung ist in gewisser Weise tricky.

SB: Vor einigen Wochen haben verschiedene NGOs, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Zeitung Le Monde den "Konzernatlas" [8] herausgegeben. Darin wird vor allem vor der Machtkonzentration in der Lebensmittelherstellung gewarnt. Einer von mehreren Kritikpunkten betrifft die Qualität der Lebensmittel. Sie sitzen im Experten- und NGO-Beirat von Nestlé und haben vielleicht Einblick in die industrielle Herstellung von Lebensmitteln. Teilen Sie die Bedenken, daß diese eine andere Qualität aufweisen als Lebensmittel, die beispielsweise regional eingekauft und selber gekocht werden?

PS: Ich vertrete die Ernährungsphysiologie und habe eine bestimmte Rolle in dem Beirat, die ich auch okay finde. Denn die Wissenschaft muß unbedingt mit der Industrie reden. Man kann die nicht einfach machen lassen. Was die ernährungsphysiologische Qualität der selbstangebauten und selbstgekochten Dinge im Vergleich zu dem, was industriell als Grundlage für Produkte benutzt wird, betrifft, würde ich in keiner Weise sagen, daß das eine besser ist als das andere. Das würde ich definitiv nicht unterschreiben.

Wenn Sie sich die Rezepte anschauen, die traditionell in der Küche verwendet werden ... nur ein Stichwort: Einsatz von Kochsalz! Ich bin mir sicher, daß zu Hause in der Küche oder beim Currywurst-Stand um die Ecke in vielen Fällen mehr Salz eingesetzt wird als bei der industriellen Produktion. Bei industriell hergestellten Produkten dagegen muß immer angeben werden, wieviel Salz drin ist. Kurzum: ernährungsphysiologisch sind von der Industrie hergestellten Lebensmittel generell nicht schlechter als selbst hergestellte, vergleichbare Produkte.

Hinsichtlich Nachhaltigkeit der Produktion, Sozialstandards, Arbeitsbedingungen ist es die Aufgabe der NGOs, sich einzumischen. Das ist nicht meine Kernkompetenz. Aber das wird heute auch schon sehr genau beobachtet. Was Unilever, Nestlé und der Handel machen, das wird heute mit Sicherheit mehr kontrolliert als das, was jeder für sich zu Hause in der Küche macht.

Inzwischen werden die Lebensmittelunternehmen von der Regierung zur Reformulierung [9] aufgefordert. Das wird von mir auch wissenschaftlich begleitet, denn das hat irgendwo auch eine Grenze. Wenn ich zum Beispiel an die Haltbarkeit von Lebensmitteln denke - ganz abgesehen von der Sensorik wie Geruch und Geschmack. Was glauben Sie, was demgegenüber in den Haushalten passiert? Da werden keine Vorgaben gemacht, ein Rezept zu ändern, und es wird nicht gefragt, wieviel Salz ein Gericht enthält.

Ich persönlich halte es für sehr wichtig, daß man mit den Konzernen redet, und habe gelernt, daß man ihnen durchaus etwas beibringen kann. Zu Nestlé Deutschland zum Beispiel gehören auch Firmen wie Maggi in Singen/Hohentwiel und Herta, die neue Produkte entwickeln. Wer anderes als wir soll die Hersteller hierbei beraten? Wenn wir erst nach Markteinführung von neuen Produkten nach unserer Meinung gefragt werden, ist es zu spät. Im Beirat kann ich zumindest versuchen zu sagen: So könnt ihr das nicht machen. Beispielsweise habe ich einmal Einspruch bei bestimmten Corn Flakes eingelegt. Ob die das am Ende umsetzen, ob ein internationaler Großkonzern letztlich darauf hört oder nicht, ist natürlich offen. Die großen Firmen haben größere Forschungseinrichtungen als wir an den Universitäten zusammen! Man muß auch ein bißchen realistisch bleiben.

Aber wenn man was erreichen will, muß man mit der Industrie reden. Auch aus Sicht einer Gesellschaft wie die DGE ist die Kommunikation mit der Lebensmittelindustrie notwendig! Wir bieten doch die Lebensmittel nicht an. Nur so können wir Einfluß nehmen, für welche Produkte ein Unternehmen letztlich mit viel Geld wirbt.

SB: So wie Margarine, die sich erst verkaufen ließ, als in einer Werbekampagne behauptet wurde, daß sie gesund ist?

PS: Ja, aber ich muß hier in einer Hinsicht widersprechen. Es gibt durchaus wissenschaftlich fundierte Ansätze für bestimmte Margarinesorten, die als Novel Food zugelassen wurden, nachdem sie quasi einer Pharmaprüfung unterzogen worden sind. Die wurden nicht einfach so zusammengeschustert.

Solche Margarine mit der sogenannten Natürlichkeit der Butter zu kontrastieren halte ich für fragwürdig, wenn man bedenkt, daß mit pflanzlichen Margarinen auch andere Fettsäuren zugeführt werden können. Einige Produkte enthalten auch ungehärtete Fette, Joghurtkulturen und vieles mehr. Demgegenüber die Butter so hoch zu heben - das ist ernährungswissenschaftlich nicht zu verstehen. Geschmacklich? Mag sein. Aber das bedeutet auch, daß wir manche Dinge einfach gar nicht zu regeln brauchen, weil der Verbraucher sowieso nach Geschmack auswählt. Es gibt ja auch keinen Grund, einzelne Lebensmittel generell auszuschließen.

Für mich gibt es zwei Regeln zum Essen: Erstens möchte ich gewichtsmäßig so bleiben, wie ich bin - ich weiß, daß das nicht hundertprozentig klappt, aber zumindest einigermaßen - und zweitens esse ich alles, was es gibt, aber jeden Tag etwas anderes. Nein, ich muß mich korrigieren, ich esse nicht alles: Kartoffelchips esse ich nicht und auch keine Austern - weil ich diese Produkte nicht mag!

SB: Würden Sie zustimmen, daß ein Aspekt manchmal zu kurz kommt bei der Ernährung, nämlich die Freude am Essen?

PS: Ich gehe auch mal gerne eine Currywurst essen, weil mir die schmeckt. Warum sollte ich das nicht tun? Ich glaube, der Fehler, den wir gemacht haben - ich sage jetzt mal "wir" -, wo dann das Kind in den Brunnen gefallen ist, war in jener Zeit, als wir in der Wissenschaft bzw. die Unternehmen angefangen haben, über einzelne Nährstoffe wie über Pharmaka zu reden. Das haben wir bis heute nicht überwunden. Gegen diese Denkweise müssen wir noch immer ankämpfen, weil sie einfach nicht stimmt. Da wurde dann viel in vitro gearbeitet, also mit Zellkulturen. Es wurden Krebszellkulturen genommen, die mit einem Nährstoff, ich würde sagen getränkt wurden. Das hatte mit Ernährung rein gar nichts zu tun! Doch daraus hat sich ein richtiger Hype entwickelt. Da wurde dann erklärt: "Beta-Carotin stoppt Lungenkrebs!" Was für ein Unsinn!

Das hat auch damit zu tun - jetzt erlaube ich mir mal einen kleinen Seitenhieb -, daß die Medizin mit der Begründung des Bereiches "Ernährungsmedizin" in die Ernährungsforschung eingestiegen ist. Das Problem ist, dass häufig die Ernährungswissenschaft als Grundlagenfach nicht mit ins Boot geholt wird. Dann fehlt auch ein Grundlagenwissen zum Stoffwechsel von Nährstoffen.

Von der Medizin haben wir ja auch die Vorgabe übernommen, Evidenz-basiert zu arbeiten. Ein Arzneimittel muss unter allen Bedingungen wirken. Diese Denkweise kann man für die Ernährung nicht 1:1 übernehmen. Wenn ich die Wirkung eines Nährstoffes untersuche, muss ich alle anderen Ernährungsparameter konstant halten. Dies ist in einer komplexen Materie wie Ernährung nur bedingt möglich. Damit wird aber der Grad der Evidenz deutlich niedriger bewertet.

Die klassischen Regeln, das Basiswissen zur Durchführung von Vergleichsstudien, habe ich noch von meinem Mentor gelernt, wie zum Beispiel die Vergleichsstudien die Kontrolle der Energiezufuhr und der Stickstoffzufuhr und die Sicherstellung, daß bei Humanstudien alle lebensnotwendigen Nährstoffe gegeben werden. Diese Regeln werde heute häufig nicht mehr angewandt. Und dann werden Aussagen auf der Basis von Studien getätigt, bei denen die Gesamtenergiezufuhr nicht kontrolliert wurde, wie "Protein hilft zum abnehmen!" Oder: "Kohlenhydrate machen dick, Fett nicht!" Da kann ich manchmal nur den Kopf schütteln. Ich habe den Eindruck, dass bei der Planung dieser Studien ernährungswissenschaftliches Basiswissen nicht herangezogen wird.

SB: Vielen Dank, Herr Stehle, für das ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] https://www.dge.de/presse/pm/so-dick-war-deutschland-noch-nie/

[2] http://www.news4teachers.de/2017/01/lebensmittelverschwendung-in-schulkantinen-ein-viertel-fuer-den-muell/

[3] https://www.in-form.de/buergerportal/in-form-die-initiative.html

[4] http://www.fao.org/docrep/005/Y1579E/y1579e03.htm#bm3

[5] http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2016/konzeption-zivile-verteidigung.html

[6] http://www.medizinauskunft.de/artikel/gesund/Vitalstoffe/02_12_beta_carotin.php

[7] https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/ernaehrungskreis/

[8] https://www.boell.de/sites/default/files/konzernatlas-2017-daten-fakten-agrarindustrie-lebensmittelindustrie.pdf

[9] Bei der Reformulierung geht es um die Veränderung von Rezepturen für Lebensmittel mit weniger Zucker, Salz und Fett im Rahmen einer nationalen Strategie des Bundesernährungsministerium.
http://www.bmel.de/DE/Ernaehrung/_Texte/Reformulierung.html


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Präsentation des 13. Ernährungsberichts erschienen:

INTERVIEW/253: Gemessen essen - es gibt kein gesundes Leben im Fett ...    Prof. Dr. Helmut Heseker im Gespräch (SB)

9. Februar 2017


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