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STANDPUNKT/1065: Zeitenwende - Die Rückkehr der Landminen? (medico international)


medico international e.V. - 3. April 2025

Zeitenwende
Die Rückkehr der Landminen?

Der 4. April ist der Internationale Tag der Minenaufklärung. Einst Erfolg einer globalen Zivilgesellschaft, galt das Verbot von Landminen im Jahr 1997 als globale verbriefte gegenseitige Sicherheit. Diese Sicherheit steht auf der Kippe.

Von Tsafrir Cohen


Ge­denk­ta­ge sind ein zwei­fel­haf­tes Ri­tu­al. Das Ge­den­ken er­in­nert häu­fig an etwas, das längst Ver­gan­gen­heit ist. Indem man es er­in­nert, be­stä­tigt man auch, dass es vor­bei ist. Er­in­nern um zu ver­ges­sen. Hof­fent­lich end­gül­tig. Die­ses Schick­sal hätte man auch einer Waffe ge­wünscht, an deren Ge­fah­ren am 4.

April er­in­nert wer­den soll. Die Ver­ein­ten Na­tio­nen haben den Ge­denk­tag zur Auf­klä­rung über die Mi­nen­ge­fahr aus­ge­ru­fen, schon im Be­wusst­sein, dass einer der grö­ß­ten Er­fol­ge in der Ab­rüs­tung nach 1990, näm­lich das Ab­kom­men über das Ver­bot von An­ti­per­so­nen­mi­nen von 1997 [1], schon al­lein des­halb un­ter-

lau­fen wer­den kann, weil zwar 165 Län­der es un­ter­schrie­ben haben, nicht aber Russ­land, China und die USA, der Iran und Is­ra­el, Pa­ki­stan und In­di­en.

Nun aber leben wir in Zei­ten un­ge­heu­er­li­cher Auf­rüs­tung, einer dau­er­be­schal­len­den Rede von Po­li­ti­kern dar­über, dass man sich auf den Krieg vor­be­rei­ten müsse, wozu das ab­so­lut Böse auf­ge­ru­fen wird. Zu­meist in Form des Wla­di­mir Putin, gegen den nichts an­de­res helfe als der Sieg, also Krieg. Dass vom Putin-Re­gime in Russ­land eine erns­te und un­be­re­chen­ba­re Ge­fahr aus­geht, ist zwei­fel­los der Fall. Die Ver­wei­ge­rung, den völ­ker­recht­lich il­le­ga­len rus­si­schen Über­fall auf die Ukrai­ne zu kon­tex­tua­li­sie­ren [2] und auch ei­ge­ne west­li­che Feh­ler in den Blick zu neh­men, ver­weist auf die ei­ge­ne Rat­lo­sig­keit, die kei­nen Raum für Ver­hand­lun­gen frei­hält. Dann bleibt eben nur noch mi­li­tä­ri­sche Über­le­gen­heit, die im Zwei­fel in einem Krieg be­wie­sen wer­den muss.

Dass in einem sol­chen Kriegs­sze­na­rio die Mine wie­der zur Waffe der Wahl wird, kann nicht ver­wun­dern. Denn es geht um eine Kriegs­führ­bar­keit un­ter­halb der Atom­schwel­le. Des­halb war die Land­mi­ne in Zei­ten des Kal­ten Krie­ges die Waffe, die in den Stell­ver­tre­ter­krie­gen vor allen Din­gen dafür zum Ein­satz kam, um die Zi­vil­be­völ­ke­rung an einem nor­ma­len Leben zu hin­dern und ter­ri­to­ria­le No-Go-Zonen zu schaf­fen. Heute setzt Russ­land Minen in der Ukrai­ne ein und ver­hin­dert so viel­fach die Rück­kehr zur land­wirt­schaft­li­chen Tä­tig­keit selbst in den Re­gio­nen, die

sie wie­der räu­men muss­te. Die Mine ist eine Kriegs­hin­ter­las­sen­schaft, die noch nach Jahr­zehn­ten ihre Opfer meist unter Zi­vi­lis­ten for­dert. Das genau ist Sinn die­ser Waffe: Ein­schüch­te­rung und Ver­stüm­me­lung der Zi­vil­be­völ­ke­rung. Nun haben mit Polen, den bal­ti­schen Län­dern sowie vor we­ni­gen Tagen auch Finn­land fünf EU-Staa­ten an­ge­kün­digt, aus dem Minen-Ab­kom­men aus­tre­ten zu wol­len. Er­reicht wird damit zu­vor­derst, dass rote Li­ni­en im Krieg über­schrit­ten wer­den.

Man mag nun sagen, dass die re­gel­ba­sier­te Ord­nung ent­lang west­li­cher Werte zu Ende ist. Also, dass die west­li­che He­ge­mo­nie nach 1990, der Im­plo­si­on der So­wjet­uni­on und des War­schau­er Pakts ihre Chan­ce hatte und nun eine mul­ti­po­la­re Welt ent­steht, in der alle Kar­ten neu ge­mischt wer­den. So kann man das Ab­kom­men zum Ver­bot der An­ti­per­so­nen­mi­nen als ein zu be­sei­ti­gen­des Über­bleib­sel einer ver­gan­ge­nen Zeit be­trach­ten.

Ge­ra­de das Minen-Ab­kom­men steht aber eben für eine an­de­re, weit­aus trag­fä­hi­ge­re Idee, die da­mals auch viele eu­ro­päi­sche Re­gie­run­gen teil­ten: eine völ­ker­recht­lich und in einem zwi­schen­staat­li­chen Ab­kom­men ver­brief­te ge­gen­sei­ti­ge Si­cher­heit, die durch das Ver­bot einer gegen die Zi­vil­be­völ­ke­rung ge­rich­te­te Waffe be­fes­tigt wurde. Das Wun­der des im ka­na­di­schen Ot­ta­wa un­ter­zeich­ne­ten Ab­kom­mens be­stand darin, dass eine glo­ba­le zi­vil­ge­sell­schaft­li­che Be­we­gung, die durch ihren Ak­ti­vis­mus auch eine glo-

ba­le Öf­fent­lich­keit schuf, die über­gro­ße Mehr­heit der Län­der und ihrer Re­gie­rung dazu brach­te, die­ses Ab­kom­men zu un­ter­zeich­nen. Wer nicht un­ter­schrieb, stand au­ßer­halb der Welt­ge­mein­schaft.

165 Staa­ten un­ter­zeich­ne­ten be­zie­hungs­wei­se ra­ti­fi­zier­ten das Ab­kom­men, dar­un­ter auch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Im An­schluss er­hielt die von med­ico ge­grün­de­te In­ter­na­tio­na­le Kam­pa­gne für das Ver­bot von Land­mi­nen 1997 [3] den Frie­dens­no­bel­preis. Die Idee, dass eine po­li­ti­sche Zi­vil­ge­sell­schaft die ge­mein­sa­men In­ter­es­sen, also eine Art glo­ba­les öf­fent­li­ches Gut, ver­tre­ten könn­te, war in der Welt. Die glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­sche Be­we­gung, die glo­ba­le Öko­be­we­gung, der welt­wei­te Kampf um die Ver­wirk­li­chung der Men­schen­rech­te be­weg­ten sich in die­ser Spur einer glo­ba­len zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Öf­fent­lich­keit, die als ei­ge­ne Kraft die Glo­ba­li­sie­rung nicht neo­li­be­ral, son­dern so­zi­al und men­schen­recht­lich de­fi­niert mit­ge­stal­ten woll­te. Am Ot­ta­wa-Ab­kom­men be­son­ders in­ter­es­sant war, dass es mit einem welt­wei­ten Pro­gramm der hu­ma­ni­tä­ren Mi­nen­räu­mung ein­her ging, das bis heute an­dau­ert. Die Welt über­nahm Ver­ant­wor­tung für die Fol­gen der Stell­ver­tre­ter-Krie­ge in Län­dern wie Af­gha­ni­stan, Kam­bo­dscha, An­go­la. Jetzt hat die Trump-Re­gie­rung mit dem An­griff auf USAID auch die Un­ter­stüt­zung der Mi­nen­räum­pro­gram­me ein­ge­stellt.

Doch schon der von den USA und ihren Ver­bün­de­ten unter ge­fälsch­ten An­schul­di­gun­gen ge­führ­te "Krieg

gegen den Ter­ror" be­en­de­te die Mög­lich­keit einer so­zia­len Welt­ge­stal­tung, wie sie sich im Ot­ta­wa-Ab­kom­men ab­zeich­ne­te. Statt­des­sen setz­ten sich po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Vor­herr­schafts­in­ter­es­sen durch, deren ideo­lo­gi­sche Be­gleit­mu­sik in einem ma­nich­äi­schen Welt­bild, also in einem schlich­ten Freund-und-Feind-Bild be­steht. Wir haben ver­lo­ren, sagte die aus In­di­en kom­men­de Schrift­stel­le­rin Arund­ha­ti Roy ein­mal, als es uns nicht ge­lang, den Irak-Krieg 2003 zu ver­hin­dern, ob­wohl es da­mals die viel­leicht welt­weit grö­ß­te An­ti­kriegs­be­we­gung der Ge­schich­te gab. Aus der Sicht der Welt­mehr­heit hat die Zei­ten­wen­de also be­reits 2003 be­gon­nen.

Für die Eu­ro­päi­sche Union, die sich immer noch für das Zen­trum der Welt hält, be­ginnt die Zei­ten­wen­de-Rech­nung erst seit dem rus­si­schen Über­fall auf die Ukrai­ne. Es lässt in sei­ner es­ka­lie­ren­den Stra­te­gie, die Stär­ke be­wei­sen soll, außer Acht, dass die krie­ge­ri­sche Ant­wort auf einen An­griff schon ein­mal ge­schei­tert ist. Der "Krieg gegen den Ter­ror", so kann man nach der Af­gha­ni­stan-Nie­der­la­ge ge­trost be­haup­ten, hat we­sent­lich zum Ende des Wes­tens bei­ge­tra­gen und so auch die EU zu einer Macht unter vie­len wer­den las­sen.

Es würde sich also loh­nen, bevor man immer wei­ter nach vorne auf den Feind starrt, die guten Er­fah­run­gen der 1990er Jahre wie­der­zu­be­le­ben und an einer Welt­ord­nung zu ar­bei­ten, die auf ge­gen­sei­ti­ger Si­cher­heit be­ruht. Ge­ra­de Deutsch­land hat eine po­si­ti-

ve Rolle beim Zu­stan­de­kom­men des Ot­ta­wa-Ab­kom­mens ge­spielt, viel Geld in die Hand ge­nom­men, um hu­ma­ni­tä­re Mi­nen­räum­pro­gram­me zu fi­nan­zie­ren und sich ein An­se­hen in vie­len der Län­der er­wor­ben, die Opfer der Stell­ver­tre­ter-Krie­ge wur­den. Darin liegt also eine Al­ter­na­ti­ve zu einer Es­ka­la­ti­on der mi­li­tä­ri­schen Stär­ke. Das Ab­kom­men zum Ver­bot der Anti-Per­so­nen­mi­nen ist nach wie vor eine Blau­pau­se für eine fried­vol­le Al­ter­na­ti­ve. Wer aus die­sem Ab­kom­men aus­tritt, schiebt die wech­sei­ti­ge Spi­ra­le der

mi­li­tä­ri­schen Grenz­über­schrei­tun­gen wei­ter voran.


Tsa­frir Cohen ist Ge­schäfts­füh­rer von med­ico in­ter­na­tio­nal. Bis 2014 war er hier für Pro­jekt­ko­or­di­na­ti­on und Öf­fent­lich­keits­ar­beit zu Is­ra­el und Pa­läs­ti­na zu­stän­dig. Da­nach hat er bei der Rosa-Lu­xem­burg-Stif­tung Re­gio­nal­bü­ros ge­lei­tet: zu­nächst Is­ra­el, dann Großbri­tan­ni­en und Ir­land.


Anmerkungen:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbereinkommen_%C3%BCber_das_Verbot_des_Einsatzes,_der_Lagerung,_der_Herstellung_und_der_Weitergabe_von_Antipersonenminen_und_%C3%BCber_deren_Vernichtung
[2] https://www.medico.de/blog/ein-weltweites-kriegsregime-droht-18900
[3] https://www.medico.de/internationale-kampagne-zum-verbot-von-landminen-13019

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Quelle:
medico international e.V. - 3. April 2025
Die Rückkehr der Landminen?
https://www.medico.de/blog/die-rueckkehr-der-landminen-20036
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 4. April 2025

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